Von Hanna Jung, Praktikantin bei krimi.ch
In meiner Familie wird die Weihnachtszeit sehr ernst genommen. Besonders das Guetzlibacken ist feste Tradition während der Adventszeit. Und wenn wir alle um den grossen Küchentisch sitzen, Teig kneten, Sterne ausstechen und wenn der Duft von Nussecken durch die Küche zieht, sagt meine Mutter jedes Jahr: «Es gibt nichts Besinnlicheres, als einen toten Mann im Schnee.» Wir wissen immer genau, welche Geschichte sie jetzt erzählen wird und freuen uns Jahr für Jahr, ihr dabei zu zuhören.
Als meine Mutter fünf Jahre alt war, lebte sie in einem kleinen Fachwerkhaus in Deutschland. Alle Nachbarn kannten sich und die Strasse war so schmal, dass man sie mit einem zu grossen Schneeball blockieren konnte. Lars, der Enkel der alten Dame von gegenüber, war Mamas bester Freund. Gemeinsam haben sie den Wald hinter der grossen Villa am Ende der Strasse durchstöbert.
An einem frostigen Wintertag beschlossen die Beiden, eine Waldhütte zu bauen. Mit knirschenden Schritten stapften sie den Schotterweg entlang. Doch plötzlich blieb Lars stehen. «Da liegt einer,» sagte er entsetzt und zeigte auf etwas im Schnee.
Da lag tatsächlich ein Mann, halb verdeckt. «Hallo?» fragte Mama vorsichtig. Nichts. Lars stupste den Mann an. «Der rührt sich nicht,» flüsterte er. «Vielleicht schläft er?» Meine Mama kannte die Erwachsenen schon gut und meinte: «Vielleicht hat er zu viel Glühwein gehabt.»
«Quatsch, der ist tot,» sagte Lars mit der Selbstsicherheit eines Fünfjährigen, der im Fernsehen bereits einmal einen Tatort schauen durfte. Sie standen unschlüssig da, bis Lars meinte: «Wir holen den Gärtner. Der weiss bestimmt, was man mit Toten macht!»
Beim Garten der Villa fanden sie tatsächlich den Gärtner. «Da hinten liegt ein Mann. Er bewegt sich nicht,» berichtete Lars stolz. Der Gärtner starrte die Kinder an, als hätten sie ihm gerade mitgeteilt, dass Weihnachten ausfällt. «Zeigt mir das mal,» murmelte er.
Zurück im Wald inspizierte der Gärtner den Mann kurz, seufzte und meinte trocken: «Der ist hinüber.» Lars schaute meine Mutter mit erhobener Nase an und verkündete: «Ich erkenne eben eine Leiche, wenn ich eine sehe!» Der Gärtner fand das gar nicht spassig. «Ihr zwei verschwindet jetzt. Und rührt nichts an!» Die Kinder gingen widerwillig zurück. Eigentlich fanden sie das Ganze spannender als jedes Weihnachtsmärchen.
Am Abend erfuhr Mamas Familie, dass der Mann nicht nur tot, sondern ermordet war. «Mit einem Schlag auf den Kopf,» erklärte Opa fachmännisch. «Wie beim Christstollen: aussen hart, innen matschig.» Die Polizei stellte später fest, dass der Tote mit einem Schneeschieber erschlagen wurde – vermutlich von jemandem, der die Schneeräumung persönlich nahm. Der Hauptverdächtige? Der Gärtner.
Ob er es tatsächlich war, weiss meine Mama bis heute nicht. Aber immer, wenn wir beim Guetzlen sind, beendet sie ihre Geschichte mit einem schiefen Lächeln: «Und damit uns das nicht passiert, schenke ich dem Gärtner jedes Jahr ein Päckchen selbstgemachter Nussecken.»