Im Dunkelrestaurant Blindekuh sind die Sehbehinderten seit 25 Jahren die Hauptdarsteller. Peter Denlo hat Jean Baldo getroffen, um über das Leben im Dunkeln, den neuen DinnerKrimi und Abenteuer in der Mongolei zu sprechen.
Jedes Mal, wenn ich an der Höschgasse aus dem Tram steige und die Strasse hinauf zur Blindekuh gehe, denke ich an die blinden Menschen, die diesen Weg täglich ohne Sicht zurücklegen. Es ist ein Gedanke, der mich frösteln lässt. Wie wäre es, blind zu sein? Diese Frage beantwortet das Restaurant Blindekuh, in dem Blinde den Gästen eine Welt ohne Licht näherbringen.
Jean Baldo, ein energiegeladener Mittvierziger, sitzt bei meiner Ankunft am Schreibtisch und telefoniert. Seine Finger fliegen über die Computertastatur, dann spüren sie flink eine Braille-Tastatur ab, wodurch Jean den Text auf dem Bildschirm lesen kann. Gleichzeit spricht der Computer mit ihm und er mit der Kundin am Telefon – Multitasking pur. Aber Jean ist die Ruhe selbst.
Seit elf Jahren arbeitet Jean in der Blindekuh, sowohl in der Administration als auch im Service. Für ihn ist der Umgang mit der Dunkelheit alltäglich, eine Herausforderung, die er von Geburt an meistert. „Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass ich blind bin“, sagt er. „Als junger Mann habe ich vieles einfach ausgeblendet. Heute akzeptiere ich es mehr und lasse mich nicht mehr so sehr stressen.“ Jean ist jemand, der sich Herausforderungen stellt, auch wenn es nicht immer der leichteste Weg ist.
Nach der Blindenschule in Baar absolvierte er eine KV-Ausbildung und arbeitete während eines Praktikums im Hotel Waldhaus in Sils-Maria. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für die Gastronomie und Hotellerie und entschloss sich, als erster Blinder eine Schweizer Hotelfachschule zu besuchen. Doch kurz vor der Diplomprüfung wurde ihm der Zugang verweigert, weil er gewisse Kurse aufgrund seiner Sehbehinderung nicht besuchen konnte. Erst ein Rekurs führte dazu, dass er doch zur Prüfung zugelassen wurde. „Man sagte mir, ich müsse die gleichen Bedingungen erfüllen wie Sehende. Aber das war sowieso genau das, was ich wollte“, erinnert er sich. Stolz nahm er schliesslich sein Diplom entgegen.
„Vierzehn Jahre habe ich im Waldhaus gearbeitet, immer bemüht, meine Sehbehinderung nicht in den Vordergrund zu stellen“, erzählt Jean weiter. „Doch es gab Situationen, in denen ich den Gästen erklären musste, dass ich gewisse Dinge aufgrund meiner Blindheit nicht tun konnte.“ In der Blindekuh sei das anders: „Hier sind wir Blinden Teil des Konzepts.“ Ich ergänze schmunzelnd: „Ihr seid die Stars der Blindekuh! Schon allein, dass ihr unseren letzten DinnerKrimi Der blinde Würger neun Jahre lang ausgehalten habt, ist bewundernswert.“ Jean lacht, gibt aber zu, dass es auch für das Team nach so vielen Jahren Zeit für einen neuen Krimi war: „Ich freue mich sehr auf Blind vor Wut und die neuen Figuren und Dialekte.“
Jean selbst hat ein Talent für Dialekte und das Nachahmen von Stimmen. „Schon als Kind habe ich Lehrer nachgeäfft oder den Kabarettisten Emil imitiert“, erzählt er. „Vielleicht lag das daran, dass ich mich manchmal ausgeschlossen fühlte.“ Trotz der Bemühungen seiner Eltern, ihn überall einzubeziehen, gab es Momente, in denen er nicht mitmachen konnte. „Da habe ich dann bei Familienfeiern den Pausenclown gespielt.“
Auf meine Frage, ob er sich hätte vorstellen können, Schauspieler zu werden, antwortet Jean ohne Zögern: „Ja, das hätte mich schon interessiert. Ich gehe selten, aber sehr gerne ins Theater. Ich mag Musicals, Opern und Operetten.“ Er erinnert sich an seine Schulzeit, in der alle zwei Jahre Theaterstücke aufgeführt wurden. „Ich habe bei drei Stücken mitgespielt und mich vom Statisten bis zur Hauptrolle hochgearbeitet“, erzählt er stolz. Heute singt er im Kirchenchor. „Das gibt mir Kraft für die ganze Woche und schult meine Stimme, die ich auch bei der Arbeit gut einsetzen kann.“
„Ist man im Umgang mit den Gästen nicht auch ein bisschen Schauspieler?“, frage ich. Jean überlegt kurz und stimmt dann zu: „Ja, auf eine Art schon. Hier in der Blindekuh haben wir sehr unterschiedliche Gäste – von Familien mit Kindern über Handwerker bis hin zu Managern. Da muss man sich immer auf die verschiedenen Bedürfnisse einstellen und ein Stück weit eine Rolle spielen. Es geht nicht darum, etwas vorzutäuschen, aber ich schalte eine Art inneren Schalter um, wenn die ersten Gäste eintreffen.“
Auf die Frage, ob ihm seine Arbeit nach elf Jahren immer noch gefällt, antwortet Jean: „Ja, es macht mir immer noch Spass. Aber es würde mir auch gut tun, mal etwas anderes zu machen. Der Arbeitsmarkt ist jedoch nicht einfach. Es wird viel vom Fachkräftemangel gesprochen, aber blinde Menschen werden nicht mit offenen Armen empfangen. Viele denken, kann der das überhaupt?“ Er seufzt und erzählt, dass ihm schon oft gesagt wurde, er sei in der Blindekuh doch gut aufgehoben und es gäbe ja sonst noch die IV. Solche Aussagen machen ihm zu schaffen, denn Jean ist voller Lebensfreude und Abenteuerlust.
„Letzten August war ich in der Mongolei“, erzählt er dann mit einem Lächeln. „Wir reisten zwei Wochen lang von Ulan Bator Richtung Süden und übernachteten in Jurten. Es war eine unglaubliche Erfahrung, besonders die unendliche Weite des Landes hat mich beeindruckt. So etwas kennt man hier nicht.“ Seine Augen leuchten, als er davon spricht. Ich bin beeindruckt und ein bisschen neidisch – so eine Reise würde ich auch gerne machen. „Und was hast du als nächstes vor?“, frage ich. „Ich möchte mit der Transmongolischen Eisenbahn durch dieses faszinierende Land fahren und zusammen mit den Einheimischen in den alten Zugwagons einige spannende Tage erleben.“ Da könnte ich mich glatt anschliessen, denke ich.
Doch erstmal geht es für uns beide zurück zur Arbeit. Jean steht auf, verabschiedet sich freundlich und setzt sich wieder an seinen Schreibtisch, wo bereits das nächste Telefonat auf ihn wartet. Und ich mache mich auf den Weg zur nächsten Probe für unseren neuen Dunkelkrimi Blind vor Wut. Auf dem Weg zum Tram wird mir bewusst: Jeans Welt ist vielleicht dunkler, aber keineswegs weniger hell – im Gegenteil, sie leuchtet in vielen Facetten, die auch Sehenden manchmal verborgen bleiben.