Von Peter Denlo
«Carlo Ventrillo. Und wer soll das sein?» Sofia hatte das Telefon zwischen Schulter und Ohr gequetscht und schaute aus dem Fenster ihres Wohnzimmers. Draussen tanzten dicke, watteartige Schneeflocken vom grauen Himmel herab, bedeckten die Dächer mit einer glitzernden Schicht und verwandelten die Strasse in einen weissen Teppich.
Sie hatte es tatsächlich zustande gebracht, Burkhards Assistenten Benjamin mit ins Boot zu holen. Denn er war ganz ihrer Meinung und fand auch, der Fall Valentina Bach hätte von Sofia und nicht von Kenny untersucht werden sollen. Dass Benjamin vor gut einem Jahr selbst ein Opfer des Playboys Kenny Biggler geworden war, half der Situation natürlich zusätzlich.
«Italienischer Staatsbürger, wohnhaft im Kanton Zug, Zweitwohnung im Tessin. Tätig im Import und Export», erklärte Benjamin mit seiner ruhigen, fast melodischen Stimme.
«Import und Export. Das klingt immer verdächtig.» Sofia rieb sich die Schläfe, wo sich langsam Kopfschmerzen ankündigten.
«Viel mehr wissen wir über Carlo Ventrillo nicht.»
«Was zum Teufel suchte der auf dem Thunersee?» Sie konnte die kalte Gischt des Sees fast auf ihrem Gesicht spüren, als sie an das türkisblaue Winterwasser vom gestrigen Tag dachte.
«Keine Ahnung.»
«Und gibt es zwischen ihm und der DinnerKrimi-Truppe einen Link?»
«Ich forsche mal noch weiter, Sofia.» Das Tippen seiner Tastatur drang durch den Hörer.
«Oder zwischen ihm und Valentina Bach?»
«Apropos, da habe ich noch News.» Benjamin flüsterte ins Telefon, seine Stimme kaum lauter als das Rascheln von Papier. «Eine neue Schauspielerin wurde nun für die tote Valentina besetzt. Simone Appel, eine Deutsche.»
«Grosse Schuhe, die diese neue Schauspielerin füllen muss.»
«Allerdings. Also, ich gehe Carlo Ventrillo noch nach», versprach Beni. «Du hörst von mir.»
«Danke, Beni. Ich schulde dir was.» Sofia drückte den Anruf weg und liess ihren Blick zum leeren Kaninchenstall auf dem Balkon wandern. Das verrostete Gitter und das unberührte Stroh trieben ihr ein paar Tränen in die Augen. Sie seufzte leise: «Oh, Luigi, wie ich dich vermisse.»
* * *
Am Nachmittag hatte Sofia endlich Luft, die ersten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Statt wie sonst in letzter Minute zu hetzen, wollte sie dieses Jahr früh anfangen und genoss das dezente Glitzern der Lichter, die in den romantischen Lauben Berns hingen. Ein leichter Wind trug den Duft von Tannenzweigen, gebrannten Mandeln und heissen Marroni aus rustikalen Holzbuden über das Kopfsteinpflaster in die Lauben hinein. Sofia atmete tief ein, um die Gerüche, die sie an ihre Kindheit erinnerten, einzusaugen. In der Hoffnung auf die Muse, die sie zu einem besonderen Geschenk für ihre Mutter inspirieren würde, schlenderte sie ziellos umher.
Schliesslich blieb sie vor einer einladenden Buchhandlung stehen: Die Schaufensterscheibe war umrahmt von leuchtend roten Schleifen, dahinter türmten sich Bestseller in makelloser Anordnung. Neugierig blieb sie stehen und liess ihre Augen über die Buchrücken gleiten, als sie im hinteren Teil des Ladens eine hohe Gestalt entdeckte. Die warme Glühbirnenbeleuchtung fiel genau auf sein kräftiges Profil: gross, durchtrainiert, dunkelrote Haare und der Blick vertieft in ein Buch.
Natürlich!, dachte Sofia. Matthias Kreinz! Der Schauspieler, den sie einen Tag zuvor auf dem Schiff gesehen hatte. Ein plötzliches Kribbeln stieg in ihr auf, und sie trat lautlos in den Laden.
Jede ihrer Bewegungen schien inszeniert: Unauffällig zog sie ein handliches Taschenbuch aus dem Regal vor ihm hervor und trat dabei so unabsichtlich wie nur möglich auf seinen Schuh.
«Oh, Entschuldigung», murmelte sie und spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
Er hob den Kopf, sein Blick ruhte kurz auf ihr, dann huschte ein mildes Lächeln über seine Lippen. «Nichts passiert», entgegnete Kreinz mit sonorer Stimme.
Er runzelte die Stirn, dann erkannte er sie. «Kommissarin Winter?»
«Eh, ja. Ah, Herr…?»
«Kreinz, Matthias Kreinz.» Seine Vorstellung klang fast wie ein sanftes Echo in dem ruhigen Laden.
Sofias Schauspielkünste standen denen des DinnerKrimi-Ensembles in nichts nach, denn er schien keinen Verdacht zu schöpfen, dass sie ihm gefolgt war. Ein triumphierendes Funkeln breitete sich in ihren Augen aus, während sie mit gespielt unbeteiligter Stimme fragte: «Was für ein Zufall! Auch auf Shoppingtour für Weihnachtsgeschenke?»
Er lehnte sich entspannt gegen ein Regal und strich sich gedankenverloren eine rote Haarsträhne aus der Stirn. Sofia bemerkte, dass die schwarzen Jeans perfekt sassen.
«Nein, ich hatte gerade ein Casting für einen Werbedreh und habe noch etwas Zeit, bevor mein Zug nach Zürich fährt.»
«Sie wohnen in Zürich?» Ihre Stimme klang leichter, als sie es beabsichtigt hatte.
«Seit meiner Geburt», schmunzelte er. «Aber vielleicht macht mich das noch verdächtiger, als ich eh schon bin. Die Berner sind ja nicht gerade unsere grösste Fangemeinde.»
Sofia lachte. «Ach, das ist doch billiger Kantönlirassismus. Keine Sorge, ich komme aus dem Aargau – wir sind noch unbeliebter.» Sie verzog kokett die Lippen, während sie sein offenes Lachen genoss, das den Laden zu erfüllen schien.
Ein kurzer Augenblick Stille entstand, dann deutete er auf die Regalbeschriftung. «Lassen Sie sich hier weiterbilden?»
Sie folgte seinem Blick: «Krimis», las sie, und ein flaues Gefühl kroch ihr den Rücken hoch. «Ach so … Nein, ich bin eigentlich gar kein grosser Krimi-Fan.»
«Ich schon», sagte er ohne Umschweife und musterte sie amüsiert.
«Wirklich? Dann suchen Sie hier wohl nach Inspiration?» Sie stellte die Frage scharf wie einen Dolch.
Er hob eine Augenbraue und zuckte mit den Schultern. «Weil ich Verdächtiger in einem Mordfall bin?» Sein Lächeln verriet, dass er ihre Andeutung bemerkte.
«Nein, nein», winkte sie ab und spielte überrascht. «Nur weil Sie in diesen Krimidinners auftreten – Sie haben sicher schon öfter den Mörder gespielt.»
Er lachte leise. «Eher das Opfer. Aber vielleicht finden Sie diesen hier spannend.» Kreinz zog ein leuchtend oranges Buch mit schwarzer Schrift aus dem Regal und hielt es ihr entgegen. Zungentod von Peter Denlo.
Sofia nahm es, liess die Seiten sanft zwischen den Fingern gleiten und studierte den Klappentext. Die Worte formten Bilder in ihrem Kopf: Burma, Rezepte, ein dunkles Geheimnis.
«Nie gehört», gab sie zu.
«Ich mag starke Kommissarinnen, die wissen, was sie tun», verkündete Matthias, worauf Sofia ihren Blick überrascht und fragend zu ihm heraufgleiten liess.
«Ich meine in Büchern», korrigierte er sich, wobei sein Blick sich vertiefte, beinahe verschwammen Wort und Wirklichkeit. Ein feines Funkeln, unverkennbar, glitzerte in seinen Augen. Sofia fragte sich, ob er tatsächlich flirtete. Und gleichzeitig war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt je einen Mann richtig interpretiert hatte. Sie schob den Gedanken beiseite, sammelte sich und wechselte das Thema zum Fall.
«Ich habe gehört, Simone Appel übernimmt für Valentina. Haben Sie etwas über sie gehört?»
Er zog sein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. «Wird das jetzt zum Verhör?»
«Wenn Sie wollen.» Sofia lächelte kokett.
«Mein Zug fährt in zwölf Minuten», warnte er sie, «aber wenn Sie möchten, könnten wir uns morgen zum Mittagessen treffen. Dann erzähle ich Ihnen alles.» Er beugte sich zu ihr runter, griff nach dem orangenen Buch in ihren Händen, kritzelte seine Nummer auf die erste Seite und reichte es ihr zurück. «Jetzt müssen Sie es kaufen.»
Sofia nickte entschlossen, ihr Herz hämmerte, als sie versprach: «Ich melde mich.» Einen Moment zögerte er, beugte sich nochmals zu ihr, diesmal zu ihrem Ohr und senkte die Stimme: «Wegen Simone Appel: Sie wollte die Rolle von Valentina von Anfang an und hat schon beim Casting hart gekämpft. Dass sie sie jetzt bekommt, ist Ironie des Schicksals. Oder vielleicht eher berechnete Absicht.» Er liess den Satz in der Luft hängen, lächelte dann freundlich, zog den Reissverschluss seiner schwarzen Bomberjacke zu und schritt zur Tür.
Sofias Hand pochte noch von seinem festen Händedruck. Ein angenehmer Schmerz, wie sie fand, als sie ihre Hand kurz anstarrte. Dabei fiel ihr Blick auf einen Stapel mehrerer Exemplare von Zungentod. Sie packte sie unter den Arm und marschierte zufrieden zur Kasse. Weihnachtsshopping erledigt, dachte sie und spürte, wie die Vorfreude leise in ihr aufflackerte.
* * *
Sofia stapfte mit prall gefüllten Einkaufstaschen um die Ecke in die knirschende Schneedecke der Sahlistrasse ein, als ein silbrig glänzender Peugeot mit Schwyzer Kennzeichen über die glatte Strasse glitt und das Tempo drosselte. Der Motor schnurrte leise in der klirrenden Kälte, der Auspuff hauchte kleine Wölkchen in die Luft. Kurz bevor sie an ihm vorbeiging, fuhr die Scheibe auf der Beifahrerseite geräuschvoll herunter.
«Frau Kommissarin?» Eine schwache Stimme, zitternd wie ein Ästchen im Wind. Sofia beugte sich vor und spähte hinein. Auf dem Beifahrersitz lag nur eine leere Jacke, doch hinter dem Lenkrad sass Pauli Schmidig. Kreidebleich, die Tätowierungen an seinen nackten Unterarmen hoben sich wie dunkle Ranken von seiner blassen Haut ab, die Tränen bahnten sich glitzernde Bahnen die Wangen hinab.
«Ich muss mit Ihnen sprechen.» Er rang nach Fassung, seine Stimme bebte.
«Was ist los, Herr Schmidig?» fragte Sofia sanft und wischte sich flüchtig einige kitzelnde Schneeflocken von der Nase.
«Nicht hier auf der Strasse», schluchzte der rund vierzigjährige Schauspieler.
«Fahren Sie dort vorne auf einen Parkplatz. Ich wohne gleich dort drüben.» Sofia zeigte auf ihr Haus, und Pauli fuhr los. Vor der Eingangstür trafen sie sich wieder. Der tätowierte Mann war immer noch tränenüberströmt und konnte sich kaum erholen.
«So, kommen Sie erst mal hoch. Ich mache Ihnen einen Tee.»
Im warmen Flur klang das Knarren des Holzbodens, als Pauli ins festlich dekorierte Wohnzimmer trat. Dort wartete eine tiefrote Designer-Couch auf ihn, weiche Kissen lagen verstreut, und auf dem niedrigen Couchtisch dampfte schon wenige Minuten später eine Kanne frischen Tees. Sofia drückte auf ihrem Handy herum, und jazzige Christmas-Standards erklangen aus den Bose-Lautsprechern.
Pauli liess sich auf die Couch sinken, griff nach einer sanft duftenden grünen Leinenserviette und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
«Entschuldigung, ich bin nah am Wasser gebaut. Immer schon gewesen.»
Sofia stellte ihm eine Tasse hin, deren heisser Dampf nach Ingwer und Zimt duftete. «Was ist denn passiert?» Er stützte die Stirn in die Hände. Die Stille war schwer, nur das leise Ticken einer Wanduhr begleitete sein Zittern.
«Ich habe Kenny erwischt … mit einem anderen im Bett.» Er schluchzte auf, die Stimme brach ihm ab. Sofia neigte den Kopf leicht schräg, versuchte einen Hauch gespieltes Mitgefühl in ihr Lächeln zu legen und blieb doch ernst. «Das tut mir leid, Herr Schmidig.»
«Danke», murmelte er unter Tränen.
«Und weil Ihre beste Freundin Valentina Bach tot ist, heulen Sie Ihren Liebeskummer nun bei mir aus.»
Pauli hob überrascht den Kopf und schaute sie verblüfft an.
«Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Schmidig, aber ich bin Kriminalkommissarin und keine Beziehungstherapeutin. Meine Frage ist doch berechtigt. Was geht mich das alles an?» Sofia hatte keine Zeit für Spielchen.
Er schluchzte erneut. «Er ist besessen.»
«Besessen vom Teufel?» Sofia konnte sich einen Funken sarkastischen Untertons kaum verkneifen, doch Pauli bemerkte es nicht. Er wischte sich weiter die Augen.
«Nein», stiess er hervor, «von Valentina Bach. Von diesem Fall. Er redet nur noch davon und presst mir alle Details heraus, obwohl Valentina mir vieles im Vertrauen erzählt hat.»
Sofias Stirn glättete sich. «Wenn Sie Informationen haben, die den Fall voranbringen, sollten Sie sie weitergeben – an Kenny oder an sonst wen.»
Pauli schüttelte den Kopf. «Ich hab ihm schon alles gesagt. Und jetzt glaube ich, er lässt mich beschatten. Der Mann, der gestern auf dem Schiff ermordet wurde – der sollte uns überwachen.»
Sie sah, wie sein Fuss nervös gegen den Boden trommelte. «Haben Sie etwas mit dem Mord zu tun?» Sie musste die Frage stellen, sonst würde sie es später bereuen, es nicht getan zu haben.
«Natürlich nicht!» Sein Fuss stoppte abrupt. «Aber ich weiss, dass Kenny diesen Typ kennt.»
«Carlo Ventrillo?», fragte Sofia überrascht.
«Ja! Genau so hiess er.» Pauli lehnte sich zurück und erzählte hastig: wie sie im Einstein St. Gallen einen DinnerKrimi für sein sechzigstes Geburtstagsfest gespielt hatten. Vierzig finstere Gestalten in dunklen Anzügen, Sonnenbrillen wie ein Mafia-Tross, das Kristalllicht der Kronleuchter über poliertem Marmor. Drinnen Kenny, gebannt von ihrer Darbietung, lachend zur richtigen Sekunde. In der Rauchpause draussen hatte Kenny nach seinem Namen gefragt, ihm am Ende des Abends seine Nummer auf den Handrücken gekritzelt.
«Wie ein weiteres Tattoo zwischen all den andern», schwelgte Pauli voller Melancholie. Doch dann versank er erneut im Schluchzen, während Sofia eifrig Notizen machte. «Also», fasste sie zusammen, «Ventrillo und Kenny kennen sich, und Sie haben den Eindruck, Ventrillo spioniert für Kenny?»
In diesem Moment schrillte Paulis Handy. Der laute Klingelton liess beide zusammenzucken.
«Hallo?» Er presste das Telefon ans Ohr, lauschte einen Moment, nickte hastig: «Ja … gut.» Er legte auf, steckte das Gerät in die Hosentasche und erhob sich schwankend. Seine Stimme bebte: «Ich kann nicht länger bleiben. Aber bitte, Frau Kommissarin, lösen Sie diesen Fall, bevor noch mehr Menschen sterben!»
Sofia sprang auf, wollte ihn festhalten, doch Pauli riss die Tür auf und stürzte die Treppe hinunter in die klirrend kalte Schneelandschaft, während drinnen Dean Martin aus den Lautsprechern von Rudolph, dem rotnasigen Rentier, trällerte.
Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.