Von Peter Denlo
Sofia schreckte schweissgebadet aus einem Albtraum hoch, als der Wecker um fünf Uhr dreissig sein ohrenbetäubendes Klingeln durch ihr dunkles Schlafzimmer jagte. Mit einem hastigen Hieb auf den Snooze-Knopf brachte sie ihn zum Schweigen, in der verzweifelten Hoffnung, noch einmal in jenen flüchtigen Traum zurückzusinken. Ihr Herz hämmerte, ihre Laken klebten an nackter Haut, und sie vergrub das Gesicht im weichen Kissen, um der stickigen Luft zu entfliehen.
Sie krampfte die Augen zu und ärgerte sich über die verpatzte Nacht: Kaum hatte sie die Augen geschlossen, schon war sie wieder aufgewacht, hatte sich hin und her gewälzt, als suchte sie vergeblich nach einer bequemen Position. Und immer wieder kehrten die Bilder des Vorabends zurück: Pauli Schmidig, der wie von der Tarantel gestochen die Flucht ergriffen hatte. Wer hatte ihn am Telefon mit nur wenigen Worten überzeugt, ihre Wohnung zu verlassen? Dabei schien er gerade Vertrauen in sie gefasst zu haben. Sonst hätte er sie doch nicht aufgesucht. Da musste mehr dahinterstecken. Aber was?
Ihre Gedanken zirkelten schon wieder um den Fall Valentina Bach und Sofia wusste, mit einer weiteren Mütze Schlaf war nicht mehr zu rechnen. So grub sie ihren Kopf von unter dem Kissen hervor, stellte den Alarm aus und schlich mit schwerem Oberkörper in die Küche, wo die Luft nach kaltem Fliesenboden und staubigem Morgen roch. Sie setzte die ganze Hoffnung auf ein Erwachen in den silbernen Knopf der Kaffeemaschine, den sie mit starkem Fingerdruck betätigte, woraufhin die Maschine ihren Aufheizprozess begann.
Auf dem Küchentisch blinkte ihr Smartphone, noch am Ladekabel hängend. Im Display flackerten ungelesene Nachrichten auf. Hastig tippte sie es an. Doch kein Pieps von Pauli. Dafür stach ihr wie ein Hammerschlag eine E-Mail von ihrem Chef Norbi Burkhart ins Auge:
«Solltest du tatsächlich auf eigene Faust im Fall V. Bach ermitteln, sehe ich mich gezwungen, dich langfristig zu suspendieren.»
Reuig, diese Mail so früh am Morgen gelesen zu haben, liess sie das Handy auf den Tisch fallen. Und noch ehe sie den Knopf für ihren doppelten Espresso erreichen konnte, begann das Telefon auf dem harten Kirschholz des Küchentisches zu vibrieren. Eine fremde Nummer, kalt leuchtend. Wer rief sie um diese Uhrzeit an?
«Hallo?», sagte sie in den Hörer, ihre Stimme noch brüchig vor Müdigkeit.
«Frau Kommissarin Winter?», erkundigte sich eine feminine, elegante Stimme.
«Ja?»
«Hier spricht Ana Xandry, die Schauspielerin, die im DinnerKrimi…»
«Ich weiss, wer Sie sind. Die mit den hunderttausend Instagram-Followern.»
«Es sind knapp hundertzwanzigtausend, um genau zu sein», korrigierte sie Sofia. Doch für die war es noch zu früh für Spielchen und kam direkt zum Punkt: «Frau Xandry, was wollen Sie?»
«Ich wollte nur fragen, ob Pauli gestern Abend bei Ihnen war.»
«Warum möchten Sie das wissen?» Sofia kam sowohl der Anruf als auch die Frage suspekt vor.
«Er schrieb mir noch am Nachmittag, dass er Sie treffen möchte. Aber dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Und er nimmt sein Telefon nicht ab.»
Sofia blickte aus dem kleinen Küchenfenster auf den grauen Himmel. «Es ist noch nicht einmal sechs Uhr morgens. Und soviel ich weiss, sind Schauspieler ja eher Nachteulen als Frühvögel, nicht wahr?» Sofia war zwar noch nicht ganz wach, aber sie konnte sich bereits gut bildlich ausdrücken. Ana fand die Antwort jedoch eher zickig und gab mit genauso spitzer Stimme Antwort: «Ja, da haben Sie sicherlich recht, er wird sich schon noch melden. Also, Ihnen noch einen schönen Tag», wollte sie sich schon verabschieden, als Sofia sie unterbrach: «Frau Xandry, woher haben Sie meine Telefonnummer?»
«Ich spiele sehr häufig eine Kommissarin. Und da lerne ich fürs Rollenstudium immer viel über Detektivarbeit», kokettierte Ana und legte kichernd auf. Für einen Moment herrschte Schweigen, nur das leise Tropfen von Kondenswasser in der Maschine durchbrach es. Sofia starrte aufs Display, dann liess sie die Hand sinken. Mit einem tiefen Seufzer trat sie an die Maschine, drückte den Knopf und murmelte, während der Duft von frisch gebrühtem Kaffee aufstieg: «Was für ein freches Biest.»
* * *
Ein wilder Schneesturm peitschte aus dem düsteren Himmel über Zürich herab, als Sofia den Hauptbahnhof hinter sich liess und in die Strassen Richtung Niederdorf eintauchte. Die Flocken wirbelten tanzend um ihre Schultern, schufen wirre Spiralen im Schein der Laternen und mischten sich unbarmherzig mit dem graubraunen Matsch der vergangenen Tage.
Wie ein gemeiner Schleier kleidete der frische Schnee die Uferpromenade entlang der Limmat in ein romantisches Weiss, doch bereits wenige Zentimeter unter der zarten Oberfläche lauerte eine stinkende, klebrige Brühe, die ungeduldig darauf wartete, in ihre Schuhe zu kriechen und ihre Socken klamm zu umschliessen.
Dennoch erreichte Sofia die kleine Pizzeria, in der sie sich mit dem Schauspieler Matthias Kreinz verabredet hatte, weitgehend unversehrt. Das Innere des Lokals empfing sie mit warmer Rot-Weiss-Atmosphäre: Tische mit karierten Leinentischdecken, in Chianti-Flaschen gesteckte Kerzen, deren flackernde Flammen die groben Holzwände in ein sanftes, bernsteinfarbenes Licht tauchten. Leise schwebte Carusos Stimme durch alte Lautsprecher herüber und verlieh dem unscheinbaren Lokal eine nostalgische Patina, wie man sie nur noch selten fand. In einer Ecke stand ein schief gewachsener Plastik-Weihnachtsbaum, behangen mit mattglänzendem Lametta und mit einem goldenen Stern an der Spitze, der krumm aufgesetzt worden war.
Sofia liess sich einen Moment von der behaglichen Wärme durchströmen, während sie sich bewusst machte, dass sie gerade etwas tat, was ihrer sonst so strengen Arbeitsethik widersprach: Sie traf sich mit einem Verdächtigen zum Mittagessen – allein weil sie ihn unwiderstehlich fand.
Sie suchte sich einen Platz im hinteren Eckchen, blickte auf die kaum besetzten Tische und zwang sich, den Eindruck loszuwerden, sie sei nur hier, um Herrn Kreinz förmlich zu verhören. Ein geschäftliches Mittagessen, nichts weiter. Und doch huschte ihr der Gedanke durch den Kopf: «Er war an dem Abend, als Valentina im Landhaus erschossen wurde, gar nicht anwesend.» Ein ebenso triumphierendes wie rätselhaftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Gerade als sie die nächsten Fragen in ihrem Kopf ordnen wollte, fegte ein kalter Luftzug durch den Raum. Die Glastür schlug auf, und Matthias betrat mit federnden Schritten die Pizzeria. Ein breites Lächeln leuchtete über sein Gesicht, während seine Arme aus der braunen Lederjacke schlüpften und er mit einem zackigen Schwung den rotblonden Haarschopf aus der Stirn warf. «Hi», rief er ihr zu, seine Stimme warm und ungezwungen.
Sofort verflogen alle ihre Bedenken. Sie erhob sich, streckte ihm die Hand entgegen, spürte aber, wie er sie statt eines förmlichen Händedrucks in eine feste, herzliche Umarmung zog. Ein angenehmer Geruch von frisch gewaschenem Wollpullover stieg ihr in die Nase, und fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, so unerwartet war die freundliche Geste.
«Ist es möglich, dass wir uns duzen?», fragte er, während er sie langsam losliess.
«Ja, natürlich», antwortete sie erleichtert. «Ich bin Sofia.»
«Matthias», stellte er sich vor, als wäre es das spannendste Geheimnis. Sofias Mundwinkel zuckten bei der Vorstellung, sie würde ihn Herr Kreinz nennen müssen. Sie setzten sich, und Sofia versuchte, das Eis mit schlichtem Smalltalk zu brechen.
«Kommst du oft hierher?»
Er winkte ab. «Erst zum zweiten Mal. Vor etwa einem Monat war ich das erste Mal hier.» In seine Augen trat plötzlich etwas Geheimnisvolles, und schnell schaute er in eine andere Richtung, als ob er einen Geist gesehen hätte.
«Eine schlechte Erinnerung?» Sofia konnte nur raten.
«Nein, nein. Aber ich war mit Valentina Bach hier zum Abendessen.»
«Ah.» Sofia war erstaunt. Er hatte das Restaurant also nicht aus romantischen Gründen ausgesucht, sondern im Zusammenhang mit dem Fall, den sie gerade untersuchte.
«Waren Valentina und du liiert?», fragte sie zögerlich. Sowohl die private wie die berufliche Sofia hatten ein Interesse an der Antwort.
«Überhaupt nicht.» Matthias lachte laut.
«Aber befreundet?»
«Auch das nicht wirklich», widersprach er, wobei er die Speisekarte zur Hand nahm und öffnete. «Wir waren Arbeitskollegen. In unserem Beruf kann man auf der Bühne die intimste Beziehung spielen, aber hinter den Kulissen sieht man sich nicht einmal mit dem Arsch an. Und Valentina war keine einfache Person.»
«Wirklich?» Sofia spitzte die Ohren.
«Du kennst die Geschichte mit Cécile, oder? Sie war ja alles andere als begeistert, als ihre Tochter plötzlich vor der Türe stand und mit dem Schuldfinger auf sie zeigte. Und als die beiden dann noch in demselben DinnerKrimi besetzt wurden, war die Hölle los. Niemand, wirklich niemand, konnte Valentina leiden.»
Sofias Stirn legte sich in Falten. «Aber Pauli Schmidig war doch ihr bester Freund?»
«Quatsch», lachte Matthias trocken. «Pauli hat sie nur benutzt. He kennt jeden Regisseur, jede Casting-Agentur im Land. Er musste sie damals zum Filmfestival Locarno schleppen, um ihr Türen zu öffnen.»
«Freunde helfen einander doch…», warf Sofia ein.
Matthias schüttelte den Kopf. «Vor einem Jahr hat sie ihm im Globus eine Louis-Vuitton-Tasche in den Rucksack gepackt, während er auf der Toilette war. Als sie den Laden verliessen, wurde er geschnappt. Und sie? Hat jede Schuld von sich gewiesen.» Er zuckte mit den Schultern. «Pauli blieb ihr aber trotzdem treu – Männer wickelt sie im Handumdrehen um den Finger.»
Ein Funkeln trat in seine Augen. «Raphael Schmitz trauert ihr immer noch nach.»
«Was ist da passiert?», hakte Sofia nach.
«Er hat sie mit einem anderen Mann im Bett erwischt. Dann hat sie ihm den Laufpass gegeben. Raphael konnte es nicht fassen. Denn niemand wirft einen Raphael Schmitz einfach so ab. Sein Stolz war verletzt, aber er hat gekämpft. Schliesslich haben wir alle unter ihren Streitereien gelitten. Und niemand wollte eine Garderobe mit den beiden teilen. Nicht einmal Michèle.»
«Michèle Wächter?»
«Genau. Die ist sonst die gute Seele: hart im Auftreten, weich im Kern. Sie mag eigentlich jeden, aber gegen Valentina hatte sie nichts als Abneigung.»
Ein Kellner unterbrach sie und notierte Sofias Bestellung. «Eine Pizza mit scharfer Salami, bitte.» Matthias schaute sie mit verschmitztem Lächeln an: «Für mich auch.» Seine Augen leuchteten.
«Du magst es also auch würzig?», kicherte Sofia verlegen.
«Sehr. Apropos würzig: Letzten Sommer war Valentina auf einer Chili-Farm in Kolumbien und hat uns allen Habaneros mitgebracht. Klingt nett, oder? Doch die Plantage lebte von Kinderarbeit, rodete Regenwald und quälte Tiere.»
Sofia runzelte die Stirn. «Aber das war doch nicht ihr Fehler…»
«Öffentlich gab sie sich als Umweltaktivistin, privat kaufte sie Eier aus Massentierhaltung und belächelte Michèles Engagement.»
Sofia seufzte und begriff langsam, dass fast alle ein Motiv hatten, Valentina um die Ecke zu bringen. «Und wie war das mit den Abendspielleitern Corinne Werner und Patrick Staub?»
Matthias lachte laut auf. «Abendspielleiter hassen Diven, und Valentina war die Diva schlechthin. Sie hat die beiden wie Assistenten behandelt – Sklaven, könnte man sagen.»
«Und Erich Hollenstein?»
«Ach, der Erich ist ein Lamm, solange er trinken darf. Das hatte Valentina ihm aber ausgetrieben: mehrmals goss sie seinen Schnaps weg, während er am Spielen war. Erst raffte er es nicht, doch dann tobte er. Bei einer Aufführung auf der MS Rigi auf dem Zugersee erwischte er sie dabei, wie sie seinen Flachmann auf dem Aussendeck über die Reling entleerte. Da schubste er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, über Bord. Die Gäste klebten an den Fenstern des Salons und dachten, das gehöre zur Show. Valentina schaffte es tatsächlich zurück aufs Schiff und trat pitschnass zurück auf die Bühne, wo sie am Ende Standing Ovations erntete. Erich war fuchsteufelswild.»
Sofia schluckte. «Also versuchte er tatsächlich, sie umzubringen.»
«Klar. Und Ana hat’s auch versucht.»
Sie musterte ihn überrascht. «Ana? Die Zweitbesetzung?»
«Genau. Weil das Publikum Valentina liebte, bekam Ana kaum noch Vorstellungen zugeteilt. Im Oktober konnte sie die Miete nicht mehr zahlen. So wartete sie am Hauptbahnhof auf Gleis 12 auf sie und stiess sie vor den einfahrenden Intercity. Doch Valentina war seit früher Kindheit eine Akrobatin: Sie krachte gegen den Führerstand, machte rückwärts einen doppelten Flip, dann einen vierfachen Salto über den Prellbock und landete elegant in der applaudierenden Menge. Standing Ovations einmal mehr, versteht sich.»
Sofia lehnte sich zurück, schaute ihn an und fragte leise: «Und warum bist du mit ihr essen gegangen?»
Matthias griff reflexartig zu seinem Glas, das jedoch leer war. Er stellte es wieder hin. «Einige Stunden die Woche arbeite ich in einer Adoptionsagentur. Und Valentina hatte einige Fragen dazu, da sie ja selbst adoptiert war. Für sie war das ein grosses Thema.»
In diesem Moment brachte der Kellner die dampfend heissen Pizzen. Rote Sauce, zerfliessender Mozzarella, die würzige Salami rief förmlich nach einem Tropfen Rotwein. Matthias lächelte sie an und schaute ihr tief in die Augen. «Ein Gläschen dazu?»
Sofia atmete tief durch. «Warum nicht?», flüsterte sie. Schliesslich war sie ja immer noch krankgeschrieben und offiziell nicht im Dienst.
* * *
Die Reise zurück nach Bern quälte Sofia im übervollen Intercity, wo Pendler und Weihnachtseinkäufer sich in den Gängen drängten. Der Geruch von nassem Wollmantel und billigem Glühwein hing in der Luft.
Eingeklemmt zwischen zwei schwitzenden Männern kritzelte sie mit zitternden Fingern einige Gedanken in ihr abgegriffenes Notizbuch, als ihr Handy mit seinem schrillen Klingeln die Mitreisenden aufschrecken liess.
«Winter?», meldete sie sich mit rauer Stimme.
«Frau Kommissarin, hier ist Patrick Staub, der Abendspielleiter.» Seine Stimme überschlug sich, als würde er gleichzeitig rennen und sprechen.
«Was ist denn los?» Sofia presste das Telefon fester ans Ohr.
«Ich bin bei Pauli Schmidig zuhause und er ist verschwunden.» Ein panisches Keuchen folgte.
«Was soll das heissen, verschwunden?» Sie spürte, wie sich ihr Nacken verspannte.
«Ich hatte mit ihm im Plüsch auf einen Kaffee abgemacht. Aber er tauchte nicht auf. Sein Telefon nahm er auch nicht ab. Das ist sehr untypisch für ihn, denn er ist sonst die Pünktlichkeit in Person. Also fuhr ich zu ihm. Aber er ist nirgends zu finden.»
«Vielleicht hat er Ihre Verabredung einfach vergessen und sein Handy hat keinen Akku mehr.» Sofia versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, obwohl ihr Herz bereits schneller schlug.
«Aber sein Handy liegt ja hier», flüsterte Patrick mit erstickter Stimme. «Das Display ist zersprungen.»
«Was?»
«Ja, sein Telefon liegt hier vor seiner Haustür am Boden, und auf den steinernen Treppenstufen zieht sich eine Spur von frischem Blut hinunter.»
«Staub?»
«Ja?» Seine Stimme war kaum mehr als ein Wimmern.
«Rufen Sie sofort die Polizei!»
Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.