Von Peter Denlo
Zwischen ausgebreiteten Kostümen und Spitalrequisiten brach in der DinnerKrimi-Künstlergarderobe noch vor dem 4. Akt blanke Panik aus. Sofia stockte der Atem, als sie an dem hochgewachsenen Mann, der sich als Mitarbeiter des Hotels Wilden Mann ausgab, die tiefen, blutigen Kratzspuren sah. Mit voller Stimme schrie sie warnend durch den Raum: «Dieser Typ hat Patrick erwürgt!», wodurch Matthias, Cécile und Simone das Blut in den Adern gefror. Sie stürzte mit einem Satz auf seinen Rücken, in der Hoffnung, ihn zu Boden zu reissen.
Cécile und Matthias blieben vor Schock wie angewurzelt stehen, während Simone blitzschnell auf den Fremden zustürmte. Mit geübter Kraft rammte sie ihr Knie zwischen seine Beine, sodass der Mann keuchend zusammensank. Unter dem schwarz glänzenden Anzug verkrampfte seine Miene sich vor Schmerz, als Sofia mit beiden Händen seine Handgelenke packte und sie ruckartig auf den Rücken drehte. Seine Versuche, sich zu wehren, endeten im Pochen seiner Schläfen.
«Handschellen, los!», befahl sie scharf in die Runde. Cécile stürzte sofort zu einem Paar Theaterhandschellen neben ihren Perücken und klickte sie dem überraschten Unbekannten um die Handgelenke.
«Ich bin mir sicher, Patrick hat irgendwo auch noch Kabelbinder in seinem Koffer.» Cécile war bekannt für ihre guten, praktischen Ideen, und Simone hechtete sofort zu dem grossen, braunen Koffer, der dem toten Abendspielleiter gehört hatte.
Matthias hob zweifelnd die Hand. «Aber Sofia, er hat doch behauptet, er arbeite hier im Hotel.»
«Schon möglich», knurrte Sofia, «doch er hat Patrick umgebracht.» Sie fuhr mit der flachen Hand über seinen verschwitzt verklebten Hemdkragen und zog ihn ruckartig einige Zentimeter herunter, wodurch der Mann nach Luft schnappte. Unter dem Stoff zeichnete sich eine lange, purpurne Wunde ab. «Hier ist der tiefe, blutige Kratzer am Hals – exakt Patricks Gitarrenzupfnagel-Spur.»
In diesem Moment öffnete sich die Tür: Kellnerin Carmen trat mit vier dampfenden Tellern in den Raum – der Hauptgang.
Ihr gewohnt ruhiger Schritt stoppte, als sie die Szene erblickte: den am Boden liegenden Mann, Sofia über ihm, Simone und Cécile, die emsig Kabelbinder um Hände und Füsse schnürten, und Matthias, der wie ein Regisseur am Rand der Szene stand. Carmen lachte laut drauflos: «Ihr macht ja nie Pause, oder?»
«Carmen, kennst du ihn?» Simone zwang mit beiden Händen das Gesicht des Gefesselten ins Licht. Der Mann war blass, schockgefroren, sein Widerstand erloschen. Carmen stellte die Teller behutsam ab, beugte sich vor, musterte ihn eingehend und schüttelte dann den Kopf. «Nie gesehen. Aber gute Servicekräfte sind hier immer willkommen. Er ist ja bereits korrekt gekleidet.» Ein scherzhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann verliess sie mit einem knallenden «en Guete» den Raum.
«Habe ich es doch gewusst», schallte es genugtuend aus Sofia heraus. «Also, wer bist du, Freundchen?» Doch der Fremde schwieg beharrlich.
Cécile zog ihr Handy aus der Tasche, um die Polizei zu rufen. «Warte!», unterbrach Sofia sie hastig. Sie atmete tief ein und rang nach Worten. «Leute, ich wurde von der Kriminalpolizei suspendiert. Ich darf mich gar nicht mehr in diesen Fall einmischen. Wenn das herauskommt, bekomme ich riesigen Ärger.»
Simone legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. «Du warst heute nur als Abendspielleiterin und Schauspielerin eingesprungen. Dann tauchte dieser Typ auf und wollte dich wahrscheinlich umbringen. Da musstest du ihn überwältigen.»
«Und wir haben dir geholfen», ergänzte Cécile zustimmend.
«Ja, aber dieser Typ hier will mich aus dem Weg räumen, weil ich meine Nase immer noch in diesen Fall stecke.»
«Ich stimme Sofia zu», meldete sich Matthias zu Wort. «Sofia hat mehr harte Arbeit in diesen Fall gesteckt als Kommissar Bigler. Wenn sie jetzt rausfliegt, wird der Mörder von Valentina womöglich nie gefasst.»
Cécile deutete mit zitterndem Finger auf den am Boden Liegenden: «Er ist wahrscheinlich der Mörder!»
Sofia straffte die Schultern. «Sobald wir es schwarz auf weiss haben, liefern wir ihn der Polizei aus. Versprochen.»
Simone warf einen Blick auf die alte Wanduhr über der Tür. «Aber Leute, zuerst müssen wir noch den vierten Akt spielen!»
* * *
Kaum hatte Sofia das Ende von Killer Klinik als Schauspielerin und Abendspielleiterin mehr schlecht als recht gemeistert und den wohlwollenden Applaus des Publikums in vollen Zügen aufgesaugt, stand sie wieder in der Künstlergarderobe. Der Geruch von Haarspray und kaltem Schweiss hing in der Luft, während sie ratlos auf den unbekannten, geknebelten Killer starrte, dessen eiskalte Augen sie durchbohrten.
Nachdem er am Boden kein Wort sprechen wollte, hatten sie ihn zu viert auf einen wackligen Holzstuhl gehievt und ihm den Mund mit silberglänzendem Gafferband zugeklebt, das sich straff um seine blassen Wangen spannte.
Das Einzige, was sie neben einigen zerknitterten Banknoten und klimpernden Münzen in seiner schwarzen, nach Rauch riechenden Kleidung gefunden hatte, waren eine alte Beretta neun Millimeter mit abgewetztem Griff, ein rostiger Hausschlüssel ohne jeglichen Anhänger und zwei benutzte Zahnstocher.
Mehrmals hatte sie ihn mit durchdringendem Blick gefragt, wofür der Schlüssel sei. Doch der Mann verweigerte jegliche Antwort und schaute mit versteinerten Gesichtszügen an ihr vorbei ins Leere.
«Was machen wir jetzt mit ihm?», fragte Matthias, der mit seinem schweren, abgenutzten Koffer in der schmalen Tür stand und ungeduldig mit den Fingern auf dem Griff trommelte.
Cécile wischte sich nervös eine schweissnasse Haarsträhne aus der Stirn. «Also Leute, ich renne auf den Zug, sonst komme ich heute nie nach Hause.» Sie winkten der Schauspielerin zu, als sie mit ihrem quietschenden Rollkoffer hastig aus dem Raum huschte.
«Und ihr seid auch beide mit der Bahn angereist?», fragte Simone Matthias und Sofia, die beide mit hängenden Schultern und ratlosem Blick dastanden und synchron nickten.
«Na, ich kann euch schon ein Stück mit dem Auto mitnehmen», bot Simone mit einem aufmunternden Lächeln an, während sie ihre Autoschlüssel aus der Handtasche fischte.
«Dann bringen wir ihn zu mir nach Hause.» Matthias’ Augen funkelten plötzlich, als ob er Spass an der Sache bekäme. Doch Sofia winkte energisch ab. «Matthias, ich will dich da nicht mit hineinziehen.»
«Ich bin doch schon mittendrin, Sofia. Egal. Und ich habe einen feuchten Keller mit dicken Steinwänden, in den wir ihn einsperren können. Morgen wird er sicher geständig sein, wenn sein Magen knurrt und die Kälte in seine Knochen kriecht.»
Die drei schleppten den sich windenden Gefangenen durch das festlich geschmückte Hotel, die knarrende Treppe hinunter und am glitzernden Weihnachtsbaum bei der hell erleuchteten Réception vorbei. Das Personal und zwei neugierige Touristinnen mit schweren Koffern beim Einchecken schauten ihnen mit offenen Mündern zu, wobei Simone verschmitzt lachte und mit theatralischer Geste proklamierte: «Kommen Sie auch mal zum DinnerKrimi und lassen Sie Ihren Mann verhaften!»
Draussen in der eisigen Nachtluft schmissen sie den zappelnden Killer in den geräumigen Kofferraum von Simones silbernem Kombi, wo er endlich sein erstes Wort von sich gab: ein tiefes, schmerzhaftes «Aua».
* * *
Sofia erwachte abrupt und starrte an die blassweisse Decke über ihr, deren feine Risse im frühen Morgenlicht Schatten warfen. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, und sie dachte nur: «Verdammt, was habe ich getan?» In der letzten Nacht hatte sie einen Mörder gekidnappt und in einen feuchten, muffigen Keller gesperrt. Dann hatte sie mit einem Mann geschlafen, der im Fall Valentina Bach als Verdächtiger galt, war in seiner Wohnung geblieben und hatte in frisch bezogener Bettwäsche die Nacht mit ihm verbracht. Sie seufzte.
Doch als sie den Kopf zur Seite drehte und Matthias’ entspanntes Gesicht im schummrigen Halbdunkel erkannte, glitten ihre Zweifel schnell davon. Sein ruhiger Atem, das gleichmässige Heben und Senken seiner Brust, all das gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, vor dem sie sich selbst kaum eingestehen wollte, wie sehr sie es suchte.
Vorsichtig liess sie ihren Blick zum Nachttisch gleiten, wo ihr Smartphone neben den Habseligkeiten des geknebelten Täters lag. Auf dem Display leuchteten keine verpassten Anrufe, keine blinkenden Nachrichten, und es war erst halb acht. Sie atmete entspannt durch und schloss nochmals die Augen. Doch in dem Moment zog ein kräftiger Arm sie von hinten sanft, aber bestimmt, mittig ins weiche Federbett. Der warme Duft seiner Haut stieg ihr in die Nase, und unwillkürlich wandte sie sich ihm zu, wo ihre Lippen auf seine trafen. Ihre nackten Körper verschmolzen unter der warmen Bettdecke zum leidenschaftlichen Liebesspiel. Für einige ekstatische Augenblicke vergass Sofia gar, dass im Keller noch ein Problem auf sie wartete.
Schliesslich liess Matthias den Kopf erschöpft und mit einem genüsslichen Lächeln zurück in das weiche Kissen sinken. Träge flüsterte er: «Guten Morgen!» Sein schneller Atem beruhigte sich allmählich, während er sie mit leuchtenden Augen anschaute und mit dem Zeigefinger über die weiche Haut ihrer Schultern strich.
Sofia schlug die Lider auf, starrte direkt zurück in seine Augen, legte behutsam den Arm über seine behaarte Brust und spürte das feine Zittern seines Herzschlags. «Hast du gut geschlafen?»
«Wie ein Stein», murmelte er und streckte die Arme aus. «Und du?»
«Auch», erwiderte sie und drückte sich näher an ihn. «Sonst tu ich mich immer schwer in fremden Betten. Dieses ganze improvisierte Theaterspiel gestern hat mich wohl total erschöpft.»
Matthias drehte sich zu ihr, ein verschmitztes Lächeln spielte um seine Lippen. «Oder du fühlst dich einfach wohl bei mir.»
«Oder das», flüsterte Sofia zurück und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die noch feuchten Lippen.
Doch direkt nach dem Kuss holte er sie mit einer beiläufigen Frage in die Wirklichkeit zurück, die sich schlagartig anfühlte wie eine Bruchlandung: «Und was machen wir jetzt mit Mister Keller?»
Sofia zog die Augenbrauen hoch, liess den Kopf schwer auf das Kissen sinken und atmete tief aus. «Ehrlich gesagt glaube ich, ich muss ihn der Polizei übergeben. Und mich selbst stellen.»
«Bist du sicher?»
Sie richtete sich leicht auf und sah ihn an. «Hast du eine bessere Idee?» Matthias schwieg, denn er fand keine Antwort.
Rund eine Stunde später standen sie erneut vor der schmalen Treppe, die in den feuchten Keller führte. Sofia hielt den Schlüssel fest in der Hand und liess ihn im schwachen Licht des Flurs aufblitzen. Seite an Seite stiegen sie hinab, die Luft roch nach Moder und kaltem Stein. Als sie um die letzte Ecke bogen, stockte ihnen der Atem: Die schwere Holztür zu dem provisorischen Verlies stand sperrangelweit offen. Und von dem Gefangenen fehlte jede Spur.
«Wie konnte das passieren?», keuchte Matthias und schlug sich fassungslos an die Stirn.
Sofia ging näher heran, betrachtete das Schloss, dessen Riegel noch im geöffneten Zustand verharrten, ohne Anzeichen gewaltsamer Einwirkung. «Er muss die Tür irgendwie von innen geöffnet haben», flüsterte sie, während ihre Finger über das alte Scharnier strichen.
Matthias’ Stimme bebte: «Also ist der Killer wieder auf freiem Fuss?»
Sofia hob den Blick, aus ihren irisblauen Augen blitzten Entschlossenheit und Angst zugleich. «Ja.» Sie atmete tief durch und fügte dann leise, doch fest hinzu: «Und er hat immer noch mich im Visier.»
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Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
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Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.