Von Peter Denlo
Pauli erwachte erst, als gleissende Sonnenstrahlen wie glühende Nadeln gegen seine Lider stachen. Langsam schlug er die Augen auf, in der vergeblichen Hoffnung, einen grausigen Alptraum hinter sich gelassen zu haben. Doch da sass er noch immer, mutterseelenallein in einer klammen Berghütte, verloren irgendwo im Nirgendwo.
Durch das enge, beschlagene Fenster sah er nur zerklüftete Gipfel und endlose Nadelwaldflächen. Die ganze Landschaft schien mit weissem Puderzucker bestreut worden zu sein. Kein Pfad, kein Laut, keine Menschenseele, kein Hinweis darauf, wo er sich befand. Wie war er hier gelandet? Wer hatte ihn verschleppt? Er konnte sich an nichts erinnern.
Sein linkes Bein war in einer groben Eisenkette gefesselt, die in einem massiven Stahlbolzen an der Wand verankert war. Die kalten Glieder klirrten dumpf, wenn er sich bewegte. Gut anderthalb Meter reichten die Fesseln, gerade so, dass er von der schmalen Pritsche zum russgeschwärzten Ofen und zum wackeligen Holztisch mit spärlichen Vorräten schleichen konnte.
Viel grösser war der Raum auch nicht – kaum mehr als drei Schritte in jede Richtung, mit zwei Deckenbalken so niedrig, dass er beim Aufstehen den Kopf einziehen musste. Weder die hölzerne, mit Eisenbeschlägen versehene Tür noch das schmale, milchig-trübe Fenster konnte er mit seiner Kette erreichen. Elektrizität gab es nicht – keine summende Glühbirne, nicht einmal den flackernden Trost einer Wachskerze. Der rostfleckige Ofen in der Ecke spendete gerade genug Wärme, um seine Fingerspitzen vor dem Erfrieren zu bewahren, während die kümmerlichen Konservendosen mit abblätternden Etiketten auf dem abgenutzten Tisch seinen Hunger mehr verspotteten als stillten.
Neben dem rauchenden Ofen hing ein alter, staubiger Blasebalg an der Wand, das Leder rissig und brüchig wie vertrocknete Haut. Vorne neben dem Fenster, wo das fahle Winterlicht hereinsickerte, hing Albert Ankers berühmtes Gemälde Der Schulbub in einem wurmstichigen Holzrahmen. Pauli hatte das Bild sofort erkannt, als er in dieser muffigen Hütte zum ersten Mal die brennenden Augen geöffnet hatte. Dasselbe Gemälde hatte während seiner Kindheit bei der Grossmutter über dem abgenutzten Eichentisch in der Küche gehangen, wo der Geruch von Süssigkeiten und Kaffeebohnen die Luft erfüllte. Sie hatte mit ihren knochigen Fingern auf den Jungen gedeutet und ihm oft gesagt, dass der Bub mit der schief sitzenden Wollkappe, dem zweimal um den Hals gewickelten Schal und mit der schwarzen Schiefertafel und dem abgegriffenen Lesebuch unter dem Arm sie an ihn erinnere. Er hatte die Ähnlichkeit zwar nie gesehen, hatte nur verlegen mit den Schultern gezuckt. Aber nun, da er im düsteren, flackernden Licht auf das schiefhängende Bild starrte, dessen Farben im Laufe der Jahrzehnte verblasst waren, erkannte er tatsächlich etwas von sich selbst darin. Oder war das nur eine verzweifelte Wunschvorstellung? Tröstete es ihn, dass der Knabe auf dem Bild sein Abbild in Freiheit darstellte, auf dem Weg zur Schule statt gefesselt in einer gottverlassenen Berghütte?
Plötzlich durchdrang ein Hauch von Chanel Nummer 5 die muffige Hüttenluft – jener unverwechselbare Duft seiner Grossmutter, süss und pudrig mit einem Unterton von Jasmin und Vanille. «Wie Marilyn Monroe», hatte sie immer mit einem verschmitzten Lächeln gesagt, während sie den kristallenen Flakon mit dem bernsteinfarbenen Parfüm behutsam in ihren faltigen Händen hielt und sich einen winzigen Tropfen des kostbaren Elixiers hinter ihre Ohrläppchen tupfte. Eine einzelne, heisse Träne quoll aus seinem rechten Auge, rann langsam über seine staubige Wange und hinterliess eine salzige Spur. Die Erinnerung an ihre knorrigen, von Altersflecken übersäten Finger, die erst auf das Gemälde zeigten und dann sanft durch sein aschblondes Haar fuhren, schnürte ihm die Kehle zu. War es acht oder neun Jahre her, dass er an ihrem Sarg gestanden hatte? Die Jahreszahlen verschwammen, doch die Wärme ihrer Berührung, der Duft ihres Parfüms, das blieb kristallklar, als wäre es gestern gewesen.
Sein Blick hing an den knorrigen Holzbalken der niedrigen Decke, während ihm die Zunge trocken wie Sandpapier im Mund klebte. Die Zeit war ihm entglitten. Nur die Sonne, die bereits ihren Untergang hinter dem felsigen Berggipfel auf der anderen Seite des Tals begonnen hatte, verriet, dass der späte Nachmittag angebrochen sein musste.
Schwankend erhob er sich. Jeder Schritt schickte neue Wellen brennender Schmerzen durch Kopf und Knie. Trotz seiner schwarzen Erinnerungslücken spürte er instinktiv die Spuren von Gewalt in seinem Körper.
Mit zitternden Fingern zog er vom sorgfältig aufgeschichteten Scheiterhaufen, der sich über die ganze Länge der Wand erstreckte, ein Holzstück herunter, öffnete die schmale Ofentür und schmiss es durch die kleine Luke ins Feuer. Das Holz knackte, Funken wirbelten ihm entgegen und erloschen im Flug. Schnell schloss er die heisse Klappe wieder und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum.
Hungrig griff er zum Löffel, der in der angefangenen Büchse mit roten Bohnen steckte. Vom Silberlöffel zum Dosenöffner, was für ein Absturz. Er war sich gewohnt, beim DinnerKrimi mehrmals wöchentlich ein kreativ angerichtetes Gourmetmenü in vier Gängen essen zu dürfen. Und nun standen vor ihm ordinäre Konservendosen mit Erbsen, Rotkraut und Linsen.
Pauli wusste nur zu gut, dass er wegen seines Wissens hier schmorte. Doch er begriff beim besten Willen nicht, welches Geheimnis er in sich trug, das ihn zur Zielscheibe machte. Sicher, er hatte Kenny hintergangen und bei Kommissarin Winter ausgepackt. War das Grund genug für eine Entführung? Und warum war man ihm nicht einfach gnadenlos an den Kragen gegangen und hatte ihn einfach erschossen, wie Valentina? Besass sein Leben etwa für jemanden einen Wert? War gar die verborgene Information in seinem Kopf so wertvoll, dass sie ihn verschonte?
Während die Sonne im Westen hinter scharfkantigen Felsen versank, tauchte die Hütte in Dunkelheit. Aus der stickigen Stille drang nur das entfernte Dröhnen des Windes den Hang hinauf. Pauli stellte die Dose kraftlos zurück auf den Tisch, kletterte auf das harte Bett und zog die dünne, muffige Decke bis an die Nase. In dieser trostlosen Einsamkeit blieb ihm nichts als Schlaf, die einfachste Flucht, um die Qual des Tages zu überstehen.
* * *
Ein Geräusch wie splitterndes Holz liess ihn abrupt erwachen. Pauli riss die Augen auf, sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb wie ein gefangenes Tier. Die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein schwarzes Loch, so finster, dass er nicht einmal seine eigene Hand vor Augen erkennen konnte. Nur das ferne Heulen des Bergwindes drang durch die dünnen Wände.
Vielleicht nur ein hungriger Fuchs, der draussen durch den knirschenden Schnee stapfte? Er liess seinen schmerzenden Kopf zurück auf die harte Pritsche sinken und kniff die brennenden Augen zusammen.
Da, schon wieder! Ein Knacken wie berstendes Eis, gefolgt von einem langsamen Knarzen, als würde jemand sein Gewicht vorsichtig verlagern. Das kam definitiv von innen. Jemand war im Haus. Paulis Herzschlag trommelte in seinen Ohren wie ein Maschinengewehr. Plötzlich drang ein schmaler, gelblicher Lichtstrahl unter der alten Holztür hindurch, tanzte über den staubigen Boden und warf zuckende Schatten an die feuchten Wände. Seine ausgetrocknete Kehle wollte einen Schrei formen, doch seine Zähne gruben sich in seine rissige Unterlippe. Die Angst vor dem Unbekannten jenseits der Tür kroch wie eisige Finger seine Wirbelsäule hinauf. Würde ein Hilferuf sein Todesurteil bedeuten? Oder stand dort seine Rettung in Form eines verirrten Wanderers? Seine Gedanken wirbelten wie Schneeflocken im Sturm.
Das flackernde Licht tanzte weiter durch den zentimeterbreiten Spalt zwischen dem unebenen Holzboden und der verzogenen Tür. Eine Taschenlampe? Wusste die Person, dass sich jemand hier drin befand? Warum zögerte die Person, einzutreten? Was verbarg sich überhaupt hinter dieser verfluchten Tür? Ein weiterer Raum, ein Gang oder direkt die schneebedeckte Wildnis?
Plötzlich erlosch das Licht, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Absolute Finsternis. Der erleuchtete Spalt verschwand wie ein erloschener Stern. Dann Schritte, leise wie Mäusepfoten auf Schnee, die sich langsam entfernten, das Knirschen von Stiefeln auf gefrorenem Boden. Pauli konnte sich nicht mehr beherrschen. Er schrie mit aller Kraft seiner wunden Kehle: «Hilfe! Hallo? Wer ist da? Um Gottes willen, helft mir!»
Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit, sein Körper angespannt wie eine Bogensehne. Und tatsächlich: Nach einer Ewigkeit von Sekunden erschien der zitternde Lichtschein unter der Tür erneut, diesmal stärker, entschlossener.
«Ich bin hier eingesperrt!» Seine Stimme brach vor Verzweiflung. «Bitte, ich werde gefangen gehalten. Helfen Sie mir!»
Mit einem metallischen Scheppern, das in der Stille explodierte wie ein Schuss, drehte sich ein massiver Schlüssel im verrosteten Schloss. Die eisenbeschlagene Tür öffnete sich mit einem qualvollen Kreischen, als würden jahrhundertealte Scharniere zum ersten Mal bewegt. Grelles Licht traf sein Gesicht wie ein physischer Schlag. Pauli presste seine zitternde Hand vor die tränenden Augen und versuchte verzweifelt, die Silhouette zu erkennen, die hinter der blendenden Lampe stand. Doch er sah nur einen schwarzen Umriss gegen das schmerzhafte Weiss.
Dann, ohne Vorwarnung, erlosch die Lampe. Die Dunkelheit stürzte sich auf ihn wie ein hungriges Raubtier. Und nun, im Dunkeln, aber gut hörbar, mit schweren Schritten, die den Holzboden unter ihrem Gewicht knacken liessen, näherte sich die Gestalt langsam seinem Bett.
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Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
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Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.