Von Peter Denlo
Ana Xandry sass auf dem harten, schwarzen Stuhl, ihre schlanken Finger trommelten unruhig auf der kalten, metallenen Tischplatte, während das kühle Neonlicht über ihre leicht eingefallenen Wangen glitt. In dem stickigen Verhörraum summte ein staubiger Deckenventilator leise vor sich hin.
Sie spitzte die Lippen und schaute direkt in die Kamera ihres Telefons, als der Blitz ihres Handys sie in grelles Licht tauchte. Schnell flitzten ihre Finger unter langen, roten Gelnägeln über das Display und im Nu hatte sich der Schnappschuss in ein dramatisches Selbstporträt verwandelt, bereit für die Öffentlichkeit.
Ana öffnete Instagram, doch dabei schlug die Tür mit einem leisen Klicken auf, und Kommissar Kenny Bigler trat ein. Seine Lederschuhe hinterliessen dunkle Abdrücke auf dem hellen Linoleumboden, und er zog die schwere Aktenmappe unter dem Arm hervor, bevor er sich langsam auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen liess. Sein dunkelblauer Anzug sass makellos, die Krawatte akkurat gebunden, das Gesicht von einem dezenten Drei-Tage-Bart umrahmt.
Er liess einen schweren Stapel Papiere aus seiner Tasche auf den Tisch fallen und schaute Ana dann in die Augen. «Frau…», begann er und glitt mit kühlen Fingern durch die geordneten Seiten der Unterlagen vor ihm. Sein Blick suchte, ruhig und forschend zugleich, ihren Namen zwischen den Zeilen.
«Xandry!», platzte Ana heraus, ihre Stimme scharf wie Glassplitter. Ein hauchzarter Duft von teurem Parfum umspielte sie, während sie genervt die Augen verdrehte. «Und was soll das hier eigentlich? Ich muss in drei Stunden am Zugersee sein und morden – ich meine, meine DinnerKrimi-Vorstellung spielen! Und übrigens: Ihre Leute haben mich einfach hierhergeschleift. Sehr grob, muss ich sagen. Morgen werde ich überall blaue Flecken haben. Wissen Sie, was das für eine Schauspielerin bedeutet? Was, wenn ich beim nächsten Casting mit blutunterlaufenen Augen und blauen Flecken auf meiner Alabasterhaut auftauche?»
Bigler schwieg, legte den Kopf leicht schräg, die Stimme so leise, dass sie kaum lauter war als das Surren des Deckenventilators.
«Ach, Sie haben ja keine Ahnung!», fauchte Ana und wedelte theatralisch mit den Armen, sodass die Locken an ihren Schultern zitterten.
«Sind Sie fertig?», fragte er gelassen, mit einem ruhigen Blick. Ana verschränkte die Arme vor der Brust, die Stirn in tiefe Falten gelegt, und schenkte ihm einen fragenden, herausfordernden Blick.
«Wir haben Ihren Freund Tom verhaftet», sagte Bigler schliesslich, seine Stimme hart wie Beton. «Er steht unter Mordverdacht.»
Ana blieb reglos, als hätte sie für einen Augenblick den Atem angehalten. Nicht einmal ihre Lippen verzogen sich.
«Das erstaunt Sie nicht?», bohrte er nach. Sie liess die Schultern sinken, atemlos fast. «Doch Tom schweigt. Er hat bis jetzt kein Wort zum Tathergang in der Weissen Rose in Zürich gesagt. Aber wir wissen, dass er dort war. Und dass Sie ebenfalls vor Ort waren.»
Ein dunkler Schatten huschte über ihr Gesicht. «Ich habe Cécile nicht erschossen.»
Bigler stand auf, stemmte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. «Aber vielleicht hat Ihr Freund sie auf dem Gewissen?» Sein Fingernagel klopfte ungeduldig gegen die Tischkante.
Ana streckte ihm ihren Oberkörper entgegen. Sie nahm diesen Kampf auf sich. «Was hat das mit mir zu tun?»
«Ich will nur wissen, was Sie gesehen haben, was Sie denken, was Sie wissen, Frau Xandry.» Er liess seinen Blick einen Augenblick auf den absichtlich krumm verlaufenden Nähten ihrer Designerjacke ruhen. Sie schnaubte, ihre Wangen glühten vor Verärgerung. «Ich weiss gar nichts.»
«Aber Sie wissen, dass Tom auch etwas mit Valentina Bach hatte, nicht wahr?» Er legte sein Ass auf den Tisch, eine schmale Fotoakte. Er klappte die Akte langsam auf und schob sie ihr sachte entgegen. Ein blasses Bild zeigte Tom mit Valentina in einem schäbigen Café, seine Finger besitzergreifend um ihre schmale Taille geschlungen, ihre Köpfe so nah beieinander, dass sich ihre Haare vermischten. Vor ihnen thronte ein riesiger Eisbecher, gekrönt von einer einsamen Kirsche, die wie ein Warnlicht auf der weissen Masse schimmerte.
Ana stolperte über ihre Haltung, als hätte jemand ihr das Rückgrat weggeschnitten. Sie blinzelte, dann zischte sie ihn an: «Woher stammt dieses Foto?»
«Er war mit ihr im Tessin, vor gerade mal zwei Wochen.» Bigler war auf der Zielgeraden.
Sie schob die Akte mit gespielter Unwichtigkeit von sich weg, als taugte das Bild als Beweisstück nichts. «Und zudem, er wollte sie verlassen.»
«Wollen ist noch weit weg von wirklich tun», entgegnete Bigler. Ein verächtliches Lächeln formte sich auf ihren Lippen. Das würde sie so nicht hinnehmen. Valentina war die Böse, sie wusste das. «Sie hatte ihm Geld geschuldet», begann sie plötzlich auszupacken. «Eine ziemliche Summe. Ich habe es selbst in seinen WhatsApp-Nachrichten gelesen.» Sie kam in Rage beim Gedanken an jenen Abend, als sie mit flinken Fingern durch sein Handy scrollte, während Tom unter der Dusche lauthals My Way sang.
«Sie lesen seine privaten Nachrichten?» Bigler wurde sehr neugierig.
«Logisch!», entgegnete sie ohne Reue, die Brauen hochgezogen. «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie man so schön sagt. Ich wollte eben wissen, was Sache war mit diesem Biest Vali. Er hat mir monatelang versprochen, er würde sie verlassen. Nichts ist passiert. Die Schuldengeschichte klang da ziemlich plausibel. Hätte er sich von ihr getrennt, hätte sie ihm sein Geld nie zurückgezahlt.»
Bigler lehnte sich zurück. «Warum schuldete sie ihm denn Geld?»
Ana runzelte die Stirn. «Das habe ich nicht ganz durchschaut. Irgendwas in Italien, glaube ich. Sie wollte, dass er sie den richtigen Leuten vorstellt – wahrscheinlich Filmproduzenten oder Fernsehmacher. Valentina war total versessen darauf, gross rauszukommen.»
Er liess die Stille einen Moment lang wirken, dann kam die Frage, so abrupt wie ein Schuss: «Hat Tom gestern Cécile Gschwind erschossen?»
Ana zuckte zusammen, als hätte sie seine eigene Frage überrascht. «Wie kommen Sie denn auf so was?»
Bigler beugte sich vor, die Augen funkelten unter der schmalen Stirn. «Zeugen berichten, dass Sie nach dem Schuss auf Frau Gschwind laut nach Tom gerufen haben, als hätten Sie geglaubt, er sei beteiligt.»
Ana gestikulierte wild mit den Händen: «Ach, Quatsch mit Sosse. Ich war einfach vollkommen überfordert. Ich wollte nur, dass mein Freund mich mit seinen starken Armen beschützt. Ist das denn zu viel verlangt?»
«Hat Tom Valentinas Ermordung eingefädelt?» Biglers Worte fielen wie ein direktes Urteil.
«Jetzt machen Sie mal halblang! Ganz sicher nicht. Jetzt bleibt er wohl auf seinen Schulden sitzen.»
«Aber Sie haben ihn seither ganz für sich allein.»
Für einen Moment verfinsterte sich ihr Blick, dann schnaubte sie ihn mit zischenden Worten an: «Was wollen Sie damit sagen?»
Er sammelte die Akten vom Tisch, liess sie in seiner Mappe verschwinden und sagte ganz beiläufig: «Ich denke, Sie haben mich verstanden, Frau Xandry.» Für einen Augenblick war nur das Surren des Deckenventilators zu hören. Dann fuhr Bigler fort: «Eh, was sagten Sie? Sie müssen zu einer DinnerKrimi-Vorstellung nach Zug?» Sie nickte knapp, die Augen blitzten vor Zorn. «Ich besorge Ihnen einen Fahrer, der bringt Sie direkt hin.»
Er erhob sich, die Aktenmappe fest unter dem Arm geklemmt. Ana sprang auf, der Stuhl knarrte hinter ihr. «Stecken Sie sich Ihren Fahrer sonst wohin!» Mit einem letzten herausfordernden Blick stürmte sie an ihm vorbei, die Tür krachte nach, und ihre hochhackigen Schuhe klapperten noch im Flur, während sie davonfegte.
* * *
Als Pauli seine Augen öffnete, war es bereits wieder Tag. Was für ein scheusslicher Albtraum! Schweissüberströmt setzte er sich auf seinem harten Bett auf, die Knochen träge von der Nacht. Sein Herz begann sofort wieder zu pochen, bei dem Gedanken an den unbekannten Besucher, der ihm im Traum begegnet war. Schloss er die Augen, sank er direkt wieder in das Dunkel ab, in dem die Gestalt ihm entgegenschritt. Er erinnerte sich noch vage an einen schmerzenden Stich. Doch dann musste er wohl aufgewacht sein.
Als er sich zum Ofen wandte, um Holz nachzulegen, spürte er ein Ziehen in der Schulter. Er fasste sich an den Oberarm und bemerkte eine geschwollene Stelle, heiss und empfindlich wie eine frische Brandwunde. Ein beissender Schmerz durchdrang ihn. Sofort fielen ihm neue Dosen auf dem Tisch auf, selbst die neuste Ausgabe der Schweizer Illustrierten mit dem geheimnisvollen Lächeln von Elisabeth Tessier auf dem glänzenden Cover. Mit eiskaltem Entsetzen wurde Pauli klar: Er hatte nicht geträumt. Jemand war hier gewesen, hatte seine Einsamkeit durchbrochen. Aber wer?
* * *
Sofia war wenige Minuten zu spät zu ihrem Treffen mit dem Schauspieler Raphael Schmitz erschienen. Sein mitreissender Streit mit Tom in der Weissen Rose hatte sie tief beeindruckt, und nun brannte sie darauf, Valentinas früheren Freund zu befragen.
Als sie durch die gläserne Tür der Confiserie Treichler in Zug trat, empfing sie der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, Schokolade und zarten Zimtsternen. Kerzenlicht spiegelte sich in den polierten Holztischen, und leise Gesprächsfetzen vermischten sich mit dem Klirren von Porzellan. An einem kleinen runden Tisch am Fenster sass Raphael bereits, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn in die Hände gebettet. Er winkte ihr eilig zu, seine Miene war angespannt.
Sofia zog den schweren Wollmantel aus, schüttelte ihn, um ihn von den dicken, nassen Schneeflocken zu befreien, und schlüpfte dann aus ihren Handschuhen.
«Entschuldige die Verspätung, aber…» begann sie, doch Raphael erhob sich abrupt.
«Sorry, Sofia, um ehrlich zu sein, weiss ich nicht, ob das eine gute Idee ist», sagte er, worauf er den letzten Schluck Kaffee in einem Zug herunterstürzte und die Espressotasse mit einem leisen Klack zurück auf die Untertasse setzte. «Schau, ich habe Bigler schon alles gesagt, was ich weiss. Und du bist suspendiert. Also weiss ich nicht genau, was ich dir überhaupt erzählen soll.» Seine Stimme klang rau, als habe er sie lange zurückgehalten.
Sofia trat näher, legte ihm mit leiser Dringlichkeit die Hand auf die Schulter. Unter dem dünnen Stoff seiner marineblauen Sportjacke spürte sie die Kälte seines Körpers. In seinen Augen flackerte etwas Unausgesprochenes, ein Geheimnis, das wie ein schwerer Stein auf seinem Brustkorb lastete und ihm die Luft zum Atmen nahm. Sofia erkannte die typischen Zeichen eines Menschen, der mit ganzer Kraft etwas zurückhielt, das er eigentlich schon lange hätte aussprechen müssen.
«Bitte setz dich wieder. Es ist wichtig.» Ihr Ton war sanft, doch unmissverständlich.
Er warf einen Blick in die Runde, seufzte und liess sich auf den Stuhl zurücksinken. «Ich habe nicht viel Zeit.»
«Ich weiss, du hast nachher noch eine Vorstellung auf dem Schiff, nicht wahr?» Sofia nahm gegenüber Platz, glitt mit dem Blick über den Tresen mit seiner Auslage kostbarer Pralinen. Aber sie musste direkt zum Punkt kommen.
«Du behauptest, Tom habe Valentina ermorden lassen», begann sie, und ihre Stimme nahm die Ruhe einer behutsamen Vernehmung an. «Weshalb bist du so sicher?»
Raphael ballte die Fäuste und schlug damit auf den Tisch. Sofia hielt die klirrende Espressotasse fest. Mit lauter, zitternder Stimme brüllte er sie an: «Ich hab das der Polizei von Anfang an erzählt. Aber sie taten nichts!» Einige Gäste drehten sich zu ihnen um. Aber das störte ihn nicht. «Jetzt ist Cécile tot. Wer kommt als Nächstes dran? Ich?» Die Adern in seinen Schläfen blähten sich und färbten die Haut blau.
Sofia liess den Blick zu einer älteren Dame am Nachbartisch wandern, deren silbergraues Haar zu einem strengen Dutt hochgesteckt war. Die Frau starrte Sofia unverhohlen an, als wartete sie auf deren Antwort auf Raphaels Frage, während sie mit einer zierlichen Silbergabel einen Bissen der berühmten Zuger Kirschtorte zum Mund führte. Sofia hob fragend eine Augenbraue, worauf die Dame mit einem leisen Räuspern endlich ihren bohrenden Blick abwandte und sich mit spitzen Fingern das weisse Pulver von den schmalen Lippen tupfte.
«Warum denkst du, er will euch alle umbringen?», fragte Sofia ruhig. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, drehte den Kopf Richtung Fenster. «Tom und Valentina hatten irgendein Geschäft laufen, ich weiss nicht, was genau. Aber sie trafen sich ständig, verschwanden für Stunden.» Raphael hatte plötzlich Tränen in den Augen. Er drehte den Kopf ab, damit Sofia seine Verletzlichkeit nicht sehen konnte. Aber sie hatte seine Sensibilität schon lange durchschaut.
«War es Tom, mit dem du Valentina im Bett erwischt hast?», fragte sie ihn ganz einfühlsam.
«Mit wem sonst.» Raphael griff zur weissen Papierserviette und trocknete sich die Tränen von den heissen Wangen. Die silberhaarige Dame am Nachbartisch balancierte einen Bissen der Kirschtorte zum Mund und liess ihn zwischen den schmalen, mit Puderzucker bestäubten Lippen verschwinden. Ihre wässrigen, blauen Augen wanderten dabei mitleidsvoll zu Raphael hinüber, als wäre sein Liebeskummer ein alltägliches Schauspiel, das sie nur zu gut kannte.
Er schnaubte mit der Nase. «Im Tessin…» Er sah die neugierigen Blicke der Kirschtorte mampfenden Dame, beugte sich zu Sofia vor und senkte die Stimme. «Valentina fuhr dauernd mit Tom ins Tessin. Vor etwa einem Monat gab sie mir einen Schlüssel. Sie sah mir in die Augen und flüsterte: Falls mir etwas zustösst, musst du mit dem Schlüssel ins Tessin. Weitere Angaben würde sie mir später geben.» Er hielt inne und strich über die Tischkante.
«Wie kryptisch.» Sofia schaute ihn fragend an. «Und hat sie das getan?»
«Nein. Dann habe ich sie mit Tom im Bett gefunden, sie hat mit mir Schluss gemacht und verlangte den Schlüssel zurück.»
Sofia lehnte sich vor. Sie roch den Mokkageruch aus den leeren Tassen zwischen ihnen. «Und wo ist er jetzt?» Raphael zuckte mit den Schultern, sein Blick in die Weite des Lokals gerichtet. «Wahrscheinlich hat Tom ihn.»
Sofia griff in ihre Handtasche, kramte im Münzfach und zog schliesslich einen rostigen Hausschlüssel hervor, jenen, den sie dem Mann mit schwarzem Anzug und Beretta im Hotel Wilden Mann abgenommen hatte. Vorsichtig legte sie ihn auf den Tisch.
«War es dieser hier?»
Raphaels Augen weiteten sich, sein Atem wurde schneller. Er beugte sich vor, betrachtete den Schlüssel, drehte ihn zwischen den Fingern. «Das ist er», flüsterte er, «zu hundert Prozent.»
* * *
Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
* * *
Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.