Von Peter Denlo
Sofia fuhr direkt vom Häftlingsbesuch los, das leise Schnurren ihres Wagens mischte sich mit dem Knistern des eiskalten Windes an den Fensterscheiben. Draussen lag dichter Schnee auf den Dächern der Häuser, und der graue Winterhimmel drückte schwer auf die Strasse. Neben ihr auf dem Beifahrersitz sass die Schauspielerin Ana Xandry, deren Freund Tom jede Sekunde aus der U-Haft entlassen werden sollte. Doch Sofia wollte keine Zeit verschenken.
Tom hatte die Idee einer heissen Spur zu dem verschwundenen Schauspieler Pauli Schmidig geliefert, und Ana hielt den knitterigen Notizzettel mit der Adresse und einer handgezeichneten Umgebungsskizze in der Hand.
Kurz hinter dem Bahnhof Tiefenau bogen sie nach rechts ab, und nur noch vereinzelt huschten die Lichter einzelner Häuser am Rand des Forstes vorbei. Kaum hatten sie den Waldrand erreicht, senkte sich die Strasse in den Wald hinab. Dichte Tannen bogen sich unter der Last der schweren Flocken, ihre dunkelgrünen Nadeln funkelten im Scheinwerferlicht ihres Autos. Die Reifen gruben sich leise knirschend in den glitzernden Untergrund.
«Ich hoffe nur», durchbrach Sofia die gespannte Stille, «dass wir hier später wieder raufkommen, sonst müssen wir Schneeketten auflegen.» Ihre Stimme klang rauer, und ein Hauch von Nervosität schwang in ihren Worten mit.
Das Auto schlang sich Meter für Meter durch den Wald, bis der Weg an einem rostigen Tor aus Maschendraht endete.
«Sind wir hier wirklich richtig?», fragte Sofia und trat aus dem Wagen. Ihre Stiefel hinterliessen tiefe Abdrücke im pulvrigen Schnee. Ana nickte entschlossen und zeigte auf den Zettel. «Ja, hinter diesem Tor muss Hütte Nummer 38A stehen.»
Gemeinsam stemmten sie sich gegen das verschlossene Tor. Doch die Schlösser hielten stand. Ana kletterte am Draht hoch und liess sich auf der anderen Seite in den knirschenden Schnee gleiten. Sofia zögerte einen Moment, dann grinste sie und folgte ihr.
Mit einem Blick auf die skizzenhaft eingezeichneten Wege bahnten sie sich ihren Weg durch den tiefen Wald. Sofia spürte, wie ihre Pfadfinder-Erinnerungen an Schatzsuchen in ihr hochkamen: der kalte Hauch des Abenteuers, das leise Pochen des Herzens, wenn man einer Spur folgte.
Schliesslich öffnete sich der Wald zu einer Reihe winterlicher Schrebergärten. In regelmässigen Abständen reihten sich einfache Holzhäuschen aneinander, zugeschneit und stumm, als hätten sie auf ewiges Schweigen geschworen. Der frisch gefallene Schnee lag unberührt auf den Dächern. Keine Menschenseele schien hier zu sein.
«Ich wusste gar nicht, dass Bigler eine Gartenparzelle hat», murmelte Sofia und schaute sich um.
Ana strich mit dem Finger über den Notizzettel. «Tom kann sich gut erinnern, wie er hier das Catering für eine Gartenparty für Bigler durchgeführt hat.»
An einer Wegkreuzung hielten sie inne. Nicht weit von ihnen glitzerte die Aare, und leise war der Verkehr der Autobahn auf der anderen Flussseite zu vernehmen.
Sofia schaute auf die Skizze in Anas Hand und deutete auf die Hüttenreihe vor ihnen. «Es muss eine dieser Hütten sein.»
Ana zeigte plötzlich auf eine Metallstange neben sich und wischte vorsichtig frisch gefallenen Schnee davon weg. «36A steht hier. Also ist Biglers 38A die übernächste Parzelle.»
Mit entschlossenen Schritten stapften sie weiter. Schliesslich öffnete sich der Weg zu einer weitläufigen, schneebedeckten Parzelle, deren Metallstange am Eingang die korrekte Nummer aufwies. Am oberen Ende des abschüssigen Areals befand sich das Gartenhaus, eine professionell gezimmerte Hütte mit einladender, überdeckter Veranda. Ein Kamin ragte auf dem Dach aus dem Schnee hervor.
Sofias Herz klopfte so laut, dass sie jeden Schlag zu hören meinte, als sie die Veranda betrat und mit gefasster Stimme gegen die Holztür pochte. «Pauli?»
Ana polterte an den zugefrorenen Fensterladen und rief mit panischer Stimme: «Pauli?» Tränen glänzten in ihren Augen. «Stell dir vor, wir finden hier seine Leiche …»
«Mal nicht gleich den Teufel an die Wand», ermahnte Sofia. Gemeinsam suchten sie die Veranda ab, bis Ana unter einem alten Terrakottatopf mit vertrockneten Blättern den Schlüssel der Hütte hervorzog.
Mit zitternden Fingern drehte Sofia das Schloss um. Ein leises Knarren, dann öffnete sich die Tür in ein dunkles Inneres. Ein grosser Raum voller Gartengeräte lag vor ihr. Zusammengeklappte Liegestühle und ein Gartentisch versperrten den Weg zu einer Tür, die in einen zweiten Raum führte.
Während Ana mit ihrer Handylampe Licht gab, schob Sofia die Hindernisse aus dem Weg und bahnte sich den Weg zum anderen Raum.
«Nichts», seufzte sie, als sie sich durch die zweite Tür zwängte und in einen schmalen Nebenraum voller verrosteter Harken, Besen und Laubbläser blickte.
Ana liess die Lampe sinken.
«Fehlalarm. Pauli ist nicht hier.» Sofias Stimme schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung.
* * *
Sofia erwachte mit dem sanften, regelmässigen Schnarchen von Matthias neben sich. Die dünnen Morgenstrahlen fielen schräg durch die halb geschlossenen Jalousien und malten goldene Streifen auf sein entspanntes Gesicht. Im flackernden Halbdunkel wirkte er, als hätte ihn die Welt nie aus der Bahn geworfen. Kein Hinweis auf den Verlust seines besten Freundes Raphael, kein Schatten von Trauer über die ermordeten Kolleginnen. Hier, in den weichen Laken, schien er in vollkommener Harmonie mit der Welt zu ruhen. Sofia war erleichtert. Seit Raphaels Tod hatte sie befürchtet, er würde zerbrechen unter der Last der Ereignisse.
Draussen war es bereits hell. Sofia griff nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Kein verpasster Anruf, keine aufleuchtende Nachricht. Sie atmete erleichtert auf. Mit einem leichten Lächeln entriegelte sie das Display und wischte durch die geknipsten Fotos des Vorabends. Matthias war für ein gemeinsames Abendessen nach Bern gekommen. Auf dem festlich geschmückten Weihnachtsmarkt rund um das Münster hatten sie Glühwein getrunken, die würzige Wärme in kalter Luft genossen, dann ein kleines, heimeliges Restaurant in der unteren Altstadt betreten, dessen Kerzenschein die alten Steinmauern zum Leuchten gebracht hatte.
Zu Hause in der Sahlistrasse hatten sie zum Verdauen noch einen Grappa geteilt, dessen feuriger Abgang in ihren Kehlen gekitzelt hatte, ehe sie Arm in Arm auf dem weichen Sofa gelandet waren.
Matthias hatte von seinem Traum gesprochen: einem kleinen Restaurant am Meer, wo das Sonnenlicht die Fenster mit einem warmen Schimmer füllen würde.
«Am liebsten irgendwo, wo’s immer warm ist und man die Wellen hört», hatte er gesagt, den Kopf verträumt in den Kissen vergraben.
«Dagegen hätte ich auch nichts», hatte Sofia erwidert und ihm spielerisch einen leichten Stoss versetzt. «Aber kannst du denn kochen?»
Er hatte gelacht, ein tiefer, herzlicher Klang. «Nicht wirklich. Und du?»
Sie hatte mit einem breiten Grinsen gesagt: «Mich in eine Restaurantküche stellen? Das kannst du gleich vergessen!»
Er war wieder ernst geworden. «Aber ein kleines Häuschen am Meer, nur wir zwei …»
«Das wäre das Paradies auf Erden», hatte sie geflüstert und ihn zärtlich geküsst.
Ein schrilles Klingeln riss Sofia aus den wohlig-warmen Erinnerungen. Matthias brummte unzufrieden und drehte sich seufzend zur anderen Seite. Sofia schwang die Beine über den Bettrand, zog sich den flauschigen Morgenmantel über und schlurfte zur Wohnungstür. Wieder klingelte es, schrill und drängend.
Vor der Tür stand die Schauspielerin Michèle Wächter, in ihrer abgetragenen Helly-Hansen-Jacke, die sie wie eine zweite Haut zu tragen schien. Auf dem Kopf sass eine gelbe Strickmütze, in der die letzten Schneeflocken durch die Wärme des Treppenhauses zu kleinen, funkelnden Tropfen zerschmolzen. Ihre Augen waren gross vor Anspannung, die Lippen trocken.
«Entschuldige die Störung, Sofia, aber ich muss das einfach loswerden …» Sie rang nach Luft, als wäre sie in Eile hierhergerannt.
Sofia schob sie wortlos mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer und schloss behutsam die Tür. Der Raum war festlich geschmückt: ein Adventskranz mit dicken roten Kerzen, ein niedlicher Weihnachtsbaum mit buntem Schmuck, und der Duft von Weihnachtsgebäck lag in der Luft. Auf dem roten Samtsofa glitzerten vereinzelt goldene Fäden im Licht. Gegenüber stand ein beiger, mit Filz bezogener Hocker.
«Setz dich doch», bot Sofia an, während sie selbst Platz auf dem Hocker nahm. Die Erinnerung daran, wie eng sie hier am Vorabend neben Matthias gelegen hatte, liess sie kurz lächeln.
Michèle rang mit den Worten. Schliesslich stammelte sie: «Also … ich kiffe ab und zu … und wenn ich high bin, kann ich alles vergessen.» Sofias Stirn legte sich in Falten. Sie wusste nicht, wohin diese Geschichte führen würde.
«Aber durch den Entzug, auf den mich Simone gesetzt hat, bin ich in letzter Zeit total nüchtern. Und plötzlich schiesst mir diese Angst in den Kopf, dass auch ich … ermordet werden könnte.»
«Warum sollte das denn passieren?» Sofias Stimme war ruhig, doch innerlich war sie alarmiert.
Michèle beugte sich vor und flüsterte fast: «Wenn ich das erzähle, dann bin ich die Nächste!»
«Wir sind allein hier», flüsterte Sofia zurück und suchte Michèles Blick.
Michèles Brust hob und senkte sich unruhig, dann stotterte es aus ihr heraus: «Ich … ich weiss, warum Patrick im Wilden Mann … erwürgt wurde!»
Sofias Herzschlag beschleunigte sich. Sie beugte sich ebenfalls vor. «Erzähl!»
Michèle strich sich eine Haarsträhne zurück, während sich ihr Gesicht rot färbte. «Weil er herausfand, wer Corinne die Pistole geschickt hat.» Sie wischte sich einige Schweissperlen von der Stirn.
Sofia war perplex. Würde die ganze Wahrheit nun endlich zutage kommen? Hier, in ihrem Wohnzimmer, unverhofft durch diese eher unscheinbare Schauspielerin, die ausser durch das geschickte, schnelle Rollen von Zigaretten bisher kaum aufgefallen war?
«Und wie hat er das herausgefunden?», fragte Sofia vorsichtig.
Michèle griff in ihre Hosentasche, zog ein Päckchen Kaugummis hervor und bot Sofia einen an, die jedoch abwinkte.
«Erich erkannte die Kartonbox, in der Corinne die Waffe geschickt bekam. Er hatte beobachtet, wer das Paket zur Post brachte.»
Sofia nickte langsam und spürte, wie Puzzleteil um Puzzleteil an seinen Platz fiel. «Deshalb wurde Erich ermordet.» Ihre Stimme war leise, aber fest. Michèle bekräftigte es mit einem Nicken, während ihr Kaumuskel nervös arbeitete.
«Ich traf Patrick zufällig am Hauptbahnhof Zürich. Er war auf dem Weg nach Luzern, ich hatte an dem Abend eine Vorstellung in St. Gallen. Wir tranken einen Espresso, und dabei erzählte er mir alles.»
Sofias Augen verengten sich. «Wer hat das Paket aufgegeben?» Doch bevor Michèle antworten konnte, klangen Schritte im Flur, und die Badezimmertür quietschte.
Michèle fuhr zusammen, Panik malte sich auf ihr Gesicht. «Du hast doch gesagt, wir seien allein!»
Sofia nickte halb entschuldigend. «Nur Matthias. Er hat hier geschlafen und ist gerade wach geworden.»
Michèle sprang auf, stolperte Richtung Flur, zog in hastiger Bewegung ihre verblichene Faserpelzjacke vom Haken, riss die Haustür auf und verschwand die Treppe hinunter.
Matthias’ verschlafenes Gesicht erschien im Türrahmen zum Bad, eine Zahnbürste zwischen den Lippen. Schaum tropfte aus seinem Mund. «Wer war das?»
Sofia schloss die Wohnungstür, in der Hand die gelbe Strickkappe, die Michèle liegen gelassen hatte.
«Michèle», antwortete sie mit fester Stimme. «Sie behauptet, sie wisse, wer die Pistole verschickt hat.»
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Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
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Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.