Von Peter Denlo
Auf der Türklingel aus mattgrauem Metall prangte in schwungvoller Handschrift der Name «Xandry». Sofia drückte energisch auf den Knopf, wobei ein schriller, heller Glockenton ertönte, der sie zusammenzucken liess. Doch in der Wohnung blieb es stumm. Ungeduldig klingelte sie nochmals, worauf nun leise, eilige Schritte zu hören waren.
Sekunden vergingen, bis sich die alte Holztür einen Spalt öffnete. Ein schmaler Lichtstrahl fiel auf Tom, der in weit geschnittenen Boxershorts dastand, deren Nadelstreifen im Miniaturformat wie ein ironischer Abklatsch seiner sonst so makellos gebügelten Anzüge wirkten. Seine Augen wirkten verschlafen, die roten Haare standen wirr in alle Richtungen.
«Was ist los, Frau Kommissarin?», brummte er.
Sofia drückte die Lippen zusammen. «Ich muss mit Ana sprechen.» Ihre Stimme klang kühl und entschlossen.
Tom rümpfte die Stirn, blickte auf das blanke Handgelenk, an dem die Armbanduhr fehlte. «Jetzt?»
«Ja. Jetzt.» Sofia liess keinen Zweifel aufkommen und fixierte ihn mit stechendem Blick. Mit einem Seufzer schwang Tom die Tür weiter auf, blieb aber weiterhin darin stehen, als müsse er die Wohnung vor der Beamtin beschützen.
Er rief ins Dunkel hinter sich: «Baby, komm mal her!» Die Stimme hallte über den schmucklosen Fliesenboden des Flurs.
Aus dem Schatten erschien Ana, die sich gerade noch hastig ein T-Shirt über den Kopf zog, ihr weiches, lockiges Haar wirr um das Gesicht gestreut. «Was ist denn?» In ihrem Tonfall klang ein genervtes Gähnen mit.
Tom warf Sofia ein spöttisches Grinsen zu und rief zurück: «Kommissarin Winter will mit dir reden.»
«Nein, nein, Sofia, du störst grad gar nicht», schmunzelte Ana sarkastisch und befahl der Kommissarin: «Also, mach’s bitte kurz.»
«Darf ich reinkommen?», fragte Sofia ungeduldig.
«Ja, klar.» Sofia folgte ihr durch den Flur in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer, während Tom die Wohnungstür hinter ihnen schloss.
Ein einzelner, trockener Bananenbaum in einem abgewetzten Terrakottatopf stand trotzig in der Ecke, Modemagazine lagen unordentlich gestapelt auf dem kahlen Holzboden. Titelbilder mit glänzenden Köpfen, die fröhlicher wirkten als die Anwesenden, lachten ihnen entgegen. Das Fenster war gekippt und liess den eisigen Hauch des Winters herein.
Sofia stellte sich vor Ana hin, die Wangen leicht gerötet, und blickte ihr direkt in die Augen. «Ana, ich muss dich wegen Beihilfe zum Mord festnehmen.» Jede Silbe war klar und schnitt wie Glas, das zu Bruch geht.
Ana erstarrte, der Mund öffnete sich zu einem stummen Fragezeichen. Sekunden tickten. Dann stürmte Tom in den Raum. «Was soll das für ein Unsinn sein?», fuhr er Sofia an, die Stimme gereizt und forsch.
Sofia spürte, wie ihre Hand instinktiv unter die Jacke zum Griff ihrer Dienstpistole wanderte – bereit für jede Situation.
«Moment, Moment», flüsterte Ana, straffte die Schultern und versuchte, die Fassung zu bewahren. «Wieso zum Teufel meinst du, ich sei in diese Sache verwickelt?»
Sofias Stimme blieb sachlich: «Du wurdest dabei beobachtet, wie du ein Paket zur Post gebracht hast. Und darin befand sich die Pistole, mit der Valentina später erschossen wurde.»
Ana zuckte zurück, ihre Augen weiteten sich. «Bitte was soll ich zur Post gebracht haben?», rief sie mit hoher, ungläubiger Stimme.
Tom ging dazwischen und wollte ihr helfen: «Das Paket mit der Pisto…» Doch Ana schnitt ihm sofort das Wort ab: «Ich hab’s schon kapiert, Tom!» Sie drehte sich zu Sofia um und verschränkte die Arme vor der Brust. «Und wer hat mich dabei gesehen? Der Weihnachtsmann? Das Christkind? Der Osterhase?»
Sofia hob eine Augenbraue. «Erich Hollenstein.»
«Erich?» Ana starrte sie an. «Wie soll er das zu Protokoll gegeben haben, der ist doch … tot!»
Sofia trat einen Schritt näher. «Wir wissen, dass Erich beobachtet hat, wie jemand das Paket zur Post brachte. Und wir wissen, dass das Paket am 28. November um 17.39 Uhr in der Zürcher Sihlpost aufgegeben wurde.»
Ana presste die Lippen zusammen, ihre Hände zitterten leicht. «Ja, und?» Ihre Stimme klang brüchig, aber noch reichte ihr die Beweislage bei weitem nicht. Doch Sofia war noch nicht fertig.
«In Erichs Terminkalender finden wir einen Eintrag, dass ihr euch an besagtem Tag zum Apéro in der Europaallee treffen wolltet.»
Ana nickte langsam, die Stirn in Falten. «Das stimmt, wir haben uns auf einen Drink getroffen.»
«Und dort hat Erich dich gesehen, wie du das Paket zur Post brachtest.»
«Was?» Ana taumelte einen Schritt zurück. Sofia griff blitzschnell zu den Handschellen in der seitlichen Hosentasche ihrer schwarzen Cargopants.
«Es tut mir leid, Ana, aber ich muss dich mitnehmen.» Ihre Stimme war leise, aber unnachgiebig.
Panik blitzte in Anas Augen auf, sie hob die Hände in die Luft und trat einen Schritt zurück.
«Moment, Sofia! Ja, ich – ich war an dem Tag auf der Post und habe ein Paket verschickt», gab sie endlich zu.
Tom legte ihr von hinten besorgt die Hand auf die Schulter. «Shit, Baby, was hast du gemacht?»
Ana schüttelte den Kopf und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Nicht, was du denkst, Tom. Ich habe Erin, meiner Brieffreundin in Neuseeland, ein Weihnachtspäckchen geschickt. Aber Erich konnte mich gar nicht gesehen haben.» Einen Moment lang suchte sie nach Worten, die sie retten konnten. «Ich stand ewig in der endlosen Schlange. Als ich schliesslich zum Apéro kam, war das Päckchen längst aufgegeben. Ich hab sogar eine Insta-Story gepostet, von dieser Schlange!» Ihre Stimme klang zögernd, während sie ihr Handy von der Couch aufhob und über das Display zu wischen begann.
Sofia zog die Augenbrauen hoch. «Sorry, Ana, ich muss tun, was ich tun muss.» Sie setzte einen Fuss vorwärts, das glitzernde Metall der Handschellen in ihrer Hand klirrte. Da machte Ana einen Satz zurück, wirbelte herum, griff den Schlüsselbund im Flur und schlug hinter sich die Wohnungstür ins Schloss, wobei Sofia und Tom nur noch das Drehen des Schlüssels im Schloss hörten. Sie waren eingesperrt.
Tom lehnte sich aus dem geöffneten Küchenfenster und sah, wie Ana unten aus dem Haus gerannt kam. «Baby, du wirst dich erkälten!» Er sah ihr nach, wie sie barfuss über den frischen Schnee hastete. Ihre Spuren jedoch wurden direkt von den fallenden, dicken Flocken unkenntlich gemacht.
* * *
Zwei Stunden später glitt Sofias Wagen in die Tiefgarage des Hotel Einstein in St. Gallen. Das matte Neonlicht reflektierte von den feuchten Betonwänden, während Tom auf dem Beifahrersitz unruhig seine Schultern hob und senkte.
«Das Handy liegt im Haus dahinter», kratzte Alinas gedämpfte Stimme aus den Lautsprechern von Sofias altem Passat und klang, als würde sie am anderen Ende der Welt sitzen.
«Danke, Alina. Wir finden sie schon. Sonst rufe ich dich nochmals an.» Sofia streckte die Hand zum Armaturenbrett, wischte über ihr Smartphone und beendete das Gespräch. Das Display erlosch.
«Ist es nicht illegal, Leute über ihr Handy auszuspionieren?», knurrte Tom.
Sofia liess den Passat in eine Parklücke gleiten und antwortete scharf: «Nicht, wenn die Person unter dringendem Mordverdacht steht.»
Tom verzog das Gesicht. «Verdacht auf Beihilfe zum Mord, bitte schön. Das ist doch nicht dasselbe, als hätte sie selbst den Abzug gedrückt.» Er stieg aus und schlug die Tür mit einem dumpfen Knall hinter sich zu.
Über eine enge Treppe stiegen sie hinauf in die Kapellenstrasse. Die Luft roch nach frischem Schnee. Laut Alina, Sofias Kollegin von der Cyber-Forensik, würde Ana sich im Gebäude direkt neben dem Hotel Einstein aufhalten.
«Das ist ein Fitnesscenter», stellte Sofia fest, als sie vor dem Eingang standen.
«Stimmt. Ana hat mir einmal erzählt, dass sie manchmal nach St. Gallen in einen Wellnesstempel gehe.»
«Nicht unbedingt der schlechteste Ort, um sich vor einer Verhaftung zu verstecken, nicht wahr?», murmelte Sofia und betrat das Gebäude, wo ihnen ein schwacher Duft von Zitrus und Chlor entgegenströmte.
Im Empfangsbereich begrüsste sie Jeremy, ein junger Mann hinter dem polierten Tresen, dessen Tablet-Display in bunten Pixeln flackerte. Sofia zog ihren Dienstausweis, der im Licht silbern schimmerte. «Ich suche Ana Xandry.»
Er tippte kurz auf dem Tablet herum. «Die hat vor etwa fünfzehn Minuten eingecheckt.»
«Und wo kann ich sie finden?»
Jeremy lehnte sich vor und wies zur Tür links. «Umkleiden für Damen, dort entlang.»
Sofia nickte, rannte über den rutschigen Fliesenboden und schlüpfte durch die nächste Tür in den Garderobenraum. Der Geruch von Desinfektionsmittel stach in ihre Nase. Zwischen den Spinden stand nur eine Putzfrau, die eifrig einen Mopp schwang. Sofia zog ihr Handy hervor und wählte Anas Nummer. Sofort erklang ein vibrierendes Summen aus Spind Nummer 655. Aber von Ana war weit und breit nichts zu sehen.
Zurück am Empfang stand Tom noch immer reglos da. Sofia winkte energisch. «Komm, wir müssen sie finden.»
Sie traten in den Fitnessbereich, wo Klimmzugstangen, Laufbänder und Hantelbänke in der modernen Halle mit Betonwänden aufgereiht waren. Der Klang quietschender Gewichte mischte sich mit leisen Musikfetzen von Sinatra und Crosby, die im Hintergrund von weisser Weihnacht und Frosty, dem Schneemann, trällerten. Zwei Frauen unterhielten sich keuchend auf Crosstrainern. Ein Mann stemmte Gewichte und stiess jeden Atemzug aus, als wäre es sein letzter. Ein weiterer Herr legte sich gerade rücklings auf die Beinpresse, positionierte die Füsse und begann gegen das Gewicht zu drücken, als er den Kopf nach hinten fallen liess und an die Decke blickte. Ein langgezogener, ohrenbetäubender Schrei zerriss die Luft, und er zeigte mit zitterndem Finger nach oben. «Da!»
Sofia und Tom richteten ihre Blicke auf die scheinbar gewöhnliche Decke, bis sie erkannten, dass sie aus dickem, durchsichtigem Glas bestand. Dahinter, genau über ihnen, spannte sich ein grosses Schwimmbecken. Im türkis schimmernden Wasser trieb Ana Xandry, das Gesicht nach unten, die Glieder nach allen Seiten ausgestreckt, reglos dahin.
Mit keuchenden Schritten hastete Sofia zur Treppe am Rand des Fitnessstudios, stieg zwei Stockwerke hinauf und stiess die Tür zum Hallenbad auf. Warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen, und der stechende Duft von Chlor stieg ihr in die Lungen. Im Licht der Spots stand Mister Z, die Schultern zurückgelehnt, in seinem komplett schwarzen Anzug.
Erschrocken taumelte er zurück, wobei Sofia ihre Hand zur Waffe gleiten liess. Das kalte Metall ruhte in ihrer Faust, der Abzug nur noch einen Finger breit entfernt. Doch bevor sie schiessen konnte, schlug Mister Z mit einem geschickten Fusstritt die Pistole aus ihrer Hand. Ein metallisches Klirren übertönte die weihnachtlichen Klänge aus den Lautsprechern, als die Waffe über die nassen Fliesen rutschte und mit dumpfem Platschen in den Pool fiel.
Z griff in sein Sakko und versuchte ebenfalls, eine Pistole herauszuziehen. Doch in diesem Moment preschte Sofia vor und zog ihn mit sich ins Wasser. Eine mächtige Wasserfontäne schoss empor, als ihre Körper einsanken. Unter Wasser war alles in ein verzerrtes Blau getaucht. Mister Z rang um seine Knarre, während Sofia hart gegen ihn anschlug. Dabei gelang es dem langen Mann in Schwarz, seine Waffe hervorzuholen und abzudrücken.
Ein dumpfer Knall hallte durch den Fitnessraum unter dem Pool und liess alle nach oben schauen, wo sie nun drei Menschen im Wasser erblickten. Gleichzeitig war ein knirschendes Geräusch zu vernehmen, und über eine Glasplatte des Poolbodens zeichnete sich langsam ein langer Riss ab, durch den die ersten Wassertropfen begannen herabzusickern, direkt auf die Crosstrainer der beiden Frauen.
«Evakuieren!», schrie eine der Damen, riss die Türen auf und hetzte die anderen nach draussen. Das schrille Klirren von Gewichten, hastige Schritte auf dem harten Boden und panische Rufe mischten sich zu einem einzigen Durcheinander.
Am Beckenrand stand Tom und konnte nur hilflos zusehen. Unter Wasser kämpften Sofia und Mister Z weiter um ihre Waffen, die inzwischen beide auf dem Glasboden lagen. Ein breiter roter Streifen zog sich durchs Wasser. Sofia war ins Bein getroffen worden.
Ohne zu zögern stürzte Tom kopfüber ins Wasser, tauchte unter dem Gerangel hindurch und schwamm zielstrebig zu einer der Pistolen. Auf dem Weg zurück an die Oberfläche drückte er den Lauf der Waffe fest gegen den Bauch des Killers und feuerte. Der Schuss war unter Wasser als grollender Knall zu hören. Mister Z stiess einen keuchenden Laut aus, liess zitternd von Sofia ab und glitt benommen zur Seite.
Sofia tauchte kurz nach Tom auf. «Los, raus hier!», rief sie mit schwerem Atem. «Dieser Pool stürzt gleich ein!» Mit aller Kraft hob sie sich an der Beckenkante hoch und entstieg dem drohenden Einsturz.
Schnell streckte sie ihre helfende Hand Tom entgegen, hinter dem das Wasser zu wirbeln begann. Ein brummendes Summen erklang, und sofort bildete sich ein gefährlicher Strudel, der alles zu verschlucken drohte.
«Nur noch anderthalb Meter!», keuchte Sofia Tom entgegen. Tom strampelte mit aller Kraft, spürte, wie der Sog bereits an seinen Schuhen nagte. Mit letzter Kraft paddelte er Richtung Sofia, schliesslich schlossen sich ihre Finger ineinander, und sie zog ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Nass und schwer sackte er erschöpft auf die Bodenplatten, während neben ihnen mit einem ohrenbetäubenden Krachen die gesamte Glasplatte einbrach. Eine gewaltige Flutwelle stürzte durch die Lücke hinunter ins Fitnessstudio und riss Ana und Mister Z mit roher Gewalt mit sich in die Tiefe.
Tom sass auf dem kalten Boden und betrachtete die Leere, wo vor wenigen Sekunden noch das Wasser gewesen war. «Das war Alfredo Zanetti», flüsterte er halb benommen. «Er war oft zu Gast bei mir im Landhaus – zusammen mit Bigler.»
* * *
«Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen», versprach sie Matthias mit verliebter Stimme am Telefon, bevor sie mit einem verspielten «Und ich liebe dich!» den Anruf beendete. Tom schaute genervt zu ihr herüber.
Sofia und Tom sassen in flauschigen, schneeweissen Bademänteln mit goldbesticktem Einstein-Logo drüben im gemütlichen Bistro. Der Dampf ihrer Teetassen stieg in kleinen Wirbeln auf und beschlug die eisblumenverzierten Fensterscheiben, hinter denen dicke Schneeflocken vom grauen Dezemberhimmel fielen. Sofias Handy vibrierte auf dem polierten Eichentisch, Alinas Gesicht leuchtete auf dem Display. Mit klammen Fingern nahm sie den Anruf entgegen.
«Ja? Hast du etwas herausgefunden?», fragte Sofia und umklammerte die heisse Tasse.
Alina holte tief Luft, das Knistern der Telefonleitung vermischte sich mit dem Klappern von Geschirr aus der nahen Küche. «Also, ich kann keine Fotos von der Sihlpost auf Anas Handy finden. Und auch keine Instagram-Story, die sie an dem Tag gepostet hat.»
Sofia runzelte die Stirn, eine tiefe Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. «Aber das kann nicht sein. Sie hat uns vorhin selbst noch davon erzählt. Und es muss einen Grund geben, warum Mister Z …»
«Zanetti», korrigierte Tom sie und führte die dampfende Tasse Pfefferminztee an seine Lippen.
«Ja, es muss einen Grund geben, warum Zanetti sie ertränkt hat», beharrte Sofia und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. «Wer auch immer das Paket verschickt hat, muss gleichzeitig mit ihr auf der Post gewesen sein.»
«Ich schaue jetzt noch in versteckten Trash-Bins des Handys», verkündete Alina. Sofia hörte das hektische Tippen von Tasten, rekordverdächtig schnell, sodass es wie ein ununterbrochenes Rauschen klang.
«Hier, ich hab was!» Alinas Stimme überschlug sich vor Aufregung.
«Was?» Sofia lehnte sich vor, der Bademantel rutschte von ihrer Schulter und enthüllte einen blutverschmierten Verband.
«Vor einer guten Stunde wurden diese Fotos von ihrem Handy gelöscht», erklärte Alina triumphierend. «Aufgenommen am 28. November um 17.29 Uhr.»
«Das ist zehn Minuten, bevor das Paket aufgegeben wurde», rief Sofia voller Vorfreude auf die Bilder.
«Ja, hier sind drei Fotos von einer grossen Menschenmasse in der Sihlpost. Ich schicke sie dir gleich rüber.»
«Danke, Alina! Du warst wie immer eine super Hilfe!» Sofia beendete den Anruf mit zitterndem Daumen. Sekunden später vibrierte das Handy dreimal kurz hintereinander. Sie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem scharfen Ingwertee, der ihre Kehle wärmte, und öffnete das erste Bild: eine verschwommene Aufnahme von Menschen, deren Gesichter hinter einem Schleier aus Bewegungsunschärfe verschwanden.
Das zweite Bild war ein Selfie: Mit perfekt gezupften Augenbrauen in die Höhe gezogen, lächelte Ana gekünstelt mit rotgeschminktem Mund in die Kamera. Die Menschenmenge hinter ihr verschwamm zu einem Farbenmeer aus Wintermänteln. Tom beugte sich zu Sofia über den Tisch, sein feuchtes Haar roch nach Chlor, während Sofia zum dritten Bild wischte. Es zeigte den weitläufigen Schalterraum der Sihlpost mit seinen hohen Decken und dem Steinboden. Ein künstlicher Weihnachtsbaum mit gelben Kugeln glitzerte neben einem der Eingänge, und hinter Ana drängte sich eine Schlange von Menschen in dicken Winterjacken, die ungeduldig warteten, bis sie endlich an der Reihe waren.
Mit Daumen und Zeigefinger spreizte Sofia das Bild auseinander, zoomte tiefer und tiefer in die Gesichter der Wartenden. Die Pixel wurden grösser, verschwammen, formten sich neu.
«Da!», rief Tom plötzlich und stiess mit dem Ellbogen seine Tasse um. Pfefferminztee ergoss sich über den Tisch und tropfte auf den Boden. «Aber das ist doch …»
Sofia erstarrte. Ihr Herzschlag setzte aus, dann hämmerte er mit doppelter Kraft gegen ihre Rippen. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter, liess die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellen. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Mit bebenden Lippen und kaum hörbarer Stimme hauchte sie: «Das ist Matthias.»
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Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
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Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.