Von Peter Denlo
Sofia stand abseits des Parkplatzes. Ihr Atem formte weisse Wolken in der klirrenden Winterluft des frühen Morgens, und ihre frierenden Hände steckten tief in den Taschen ihres warmen Wintermantels. Sie fühlte sich wie in einem falschen Film, als die staubige Seitentür des Gefangenentransports aufrollte. Ein paar kräftige Hände zerrten Matthias heraus, seine Hände in kalte Handschellen gelegt. Sein Gesicht war aschfahl, die Haut unter den Augen dunkler als sonst, und Sorgenfalten gruben sich tief um seinen Mund.
Matthias hatte die ganze Nacht aussagen müssen. Sofia war von den Befragungen ausgeschlossen worden, weil ein klarer Interessenkonflikt vorlag. Dabei wäre sie nichts lieber gewesen, als dabei zu sein, um aus erster Hand zu hören, wie er sie nur benutzt hatte. Es hätte ihr vielleicht geholfen, schneller über ihn hinwegzukommen.
Ein stechender Schmerz schnürte Sofia die Brust zu, und Tränen liefen ihr über die Wangen, als hätte jemand ihre Träume und Hoffnungen mit einem Presslufthammer zerstört.
Vor dem schmalen Eingang zur Personenkontrolle blieb Matthias stehen, drehte sich um und entdeckte sie am Rand des Flurs, in der Dämmerung nur von einer flackernden Neonlampe beleuchtet.
«Sofia!» Seine Stimme klang brüchig, seine Augen glänzten feucht. «Ich habe versucht, dir alles zu erklären.»
Sofia spürte, wie ihr Herz pochte. Sie wusste nicht, was sie tun, wie sie reagieren sollte. Wegrennen? Ihn als Lügner anzuschreien? Oder auf ihn zu rennen und ihn verzweifelt zu umarmen? Doch ihre Beine waren wie versteinert, und ihr Mund blieb geschlossen. Wortlos stand sie da, starrte ihn an, unfähig, sich zu bewegen.
«Weisst du noch in Dürrenroth? Da wollte ich dir alles sagen!» Matthias schaute mit fragenden, weit aufgerissenen Augen zu ihr herüber.
Sofia presste die Lippen fest aufeinander und legte die Stirn in Falten. Sie war hin- und hergerissen, wie sie über ihn denken sollte. Ihr Vertrauen war zu einer zerbrechlichen Seifenblase geworden, die jeden Moment zu zerspringen drohte.
Schliesslich wurde Matthias weiter in den kahlen Kontrollraum geschoben. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um und rief, die Stimme viel brüchiger, aber dennoch laut: «Vergiss nicht, dass ich dich liebe, Sofia!»
Die Worte verhallten in der kalten Morgenluft, und Sofia spürte, wie die letzte salzige Träne über ihre Lippen floss. Sie blieb wie angewurzelt stehen, leer und kalt, bis sich eine wohlige Wärme auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich um.
Benjamin stand hinter ihr, in einem rot-grün karierten Pullover. Die Haut um seine Augen war gerötet, sein Blick voller Mitgefühl. «Es tut mir ja so leid, Sofia.» Fürsorglich überreichte er ihr einen Becher, der nach Rettung roch.
Benjamin lächelte ihr zu. «Eine White-Chocolate-Lebkuchen-Latte. Die wird dich ein wenig trösten.»
Sofias schwere Züge lösten sich zu einem schwachen Grinsen. «Du siehst aus wie ein Weihnachtsgeschenk.» Er lachte laut und schrill, was wie Glöckchen in der frostigen Luft klang.
«Und statt Weihnachten mit meinem neuen Freund zu feiern, wandert er in den Knast», lachte Sofia forciert, wobei ihre Stimme brach, als sie ihre eigenen Worte hörte. Sie grub ihr Gesicht auf der Suche nach Trost in seine Brust, während seine Hand tröstend durch ihr Haar glitt.
Plötzlich stampften schwere Schritte hinter ihnen. Norbi Burkhard kam um die Ecke gebogen, sein Blick streng, die Hände an den Hüften. Er warf Sofia einen väterlichen, aber unnachgiebigen Blick zu. «Ich hab’s dir von Anfang an gesagt», brummte er in einem Tonfall, der kaum Trost, sondern eher Tadel enthielt.
Benjamin legte eine warnende Hand auf Norbis Unterarm. «Chef, vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.»
Sofia löste sich von Benjamin, hob den Kopf und atmete tief durch. «Doch, doch. Du kannst es mir ruhig sagen. Ich hab totalen Mist gebaut.»
Burkhard schnaubte und verschränkte die Arme. «Er hat dich nur benutzt. Er hat ausgesagt, dass er mit dir nur zusammen war, um dich über die laufenden Ermittlungen auszuspionieren.»
Sofia fuhr erschrocken mit der Hand an die Stirn. «Das hat er wirklich gesagt?» Burkhard nickte knapp, während Benjamin sie tröstend an sich drückte.
«Übrigens», fuhr Burkhard fort und zog sein Smartphone aus der Jackentasche, «wir haben endlich die Erlaubnis bekommen, Biglers Handy zu orten.»
Ein müdes Lächeln huschte über Sofias Gesicht. «Manchmal mahlen die Mühlen hier schon sehr langsam.» Sie löste sich von Benjamin und holte ihr eigenes Handy aus der Tasche. Der Bildschirm flimmerte auf, und tatsächlich blinkte eine neue Nachricht von Alina. Flink kopierte sie die zugesandten Koordinaten und öffnete die Karten-App.
Ihre Augen glitten über die Karte, und verwundert hob sie den Blick. «Das ist irgendwo im Kanton Freiburg.» Dann wandte sie sich an Benjamin, ihre Stimme wieder fester: «Lust auf eine Fahrt ins Blaue?»
Benjamin sah fragend zu seinem Chef, der die Augenbrauen hob und mit ruhiger Stimme antwortete: «Frohe Weihnachten.»
* * *
Am Schwarzsee, dessen spiegelglatte Oberfläche in der klaren Bergluft wie ein dunkles Auge zwischen die schneebedeckten Gipfel eingebettet lag, hielten sie an, um die knirschenden Schneeketten an den Reifen ihres alten Passats zu befestigen. Jeder Handgriff erzeugte ein Metallklirren, während eisige Luft ihre Nasenspitzen rötete und Frostblumen an den Fensterscheiben wuchsen. Auf ihrem Smartphone flimmerte die rote Stecknadel kaum noch eine Fingerbreite von dem pulsierenden blauen Punkt entfernt. Doch die Serpentinen, die weiter emporführten, wirkten steiler als zuvor.
«Meinst du wirklich, wir finden Kenny hier oben?» Benjamin schlang die Arme fester um seinen dicken Wintermantel und spürte, wie ihm der kalte Wind in Nacken und Ohren biss. Ihm war unbegreiflich, warum ein Kommissar mitten in einer heiklen Ermittlung in die Einsamkeit der Alpen ausweichen sollte.
Sofia zuckte nur mit den Schultern, während sie die letzte Kette befestigte. Ihre braunen Haare peitschten ihr ins Gesicht, und jedes Mal, wenn sie den Kopf schüttelte, rieselten winzige Schneeflocken von ihren Wimpern. «Ich weiss es nicht. Aber Kenny ist selbst in diesen Fall verwickelt. Und bei diesen unberechenbaren Schurken weiss man nie. Vielleicht fiel er in Ungnade und musste sich hier oben verstecken.»
Kaum hatten sie den Motor angeworfen, machten die dichten Wolken einem herrlich blauen Himmel Platz. Doch als sie einige Kurven passiert hatten, versank der Passat bis zu den Achsen im feinen Pulverschnee. Sofia gab Vollgas, aber das Hinterrad drehte durch und warf Schneeflocken hoch, die im Sonnenlicht wie Bergkristalle glitzerten. Benjamin zoomte mit den Fingern die Karte ein. «Noch etwa achthundert Meter.»
Entschlossen riss Sofia den bunten Schal vom Rücksitz, wickelte ihn um den Hals und verkündete mit fester Stimme: «Dann gehen wir die letzten Meter eben zu Fuss.»
Kaum waren sie ausgestiegen, knackte der Schnee unter ihren Stiefeln, und jeder Schritt versank knietief in der weichen, flockigen Decke. Die Luft schmeckte nach Eis und klarem Wasser, und die Sonnenstrahlen vom azurblauen Himmel erwärmten ihnen die Gesichter.
Nach einer anstrengenden halben Stunde, in der sie durch einen düsteren Tannenwald stapften, über einen vereisten Bach balancierten und einen steilen Hang hinaufkraxelten, zeichnete sich hinter einem Wäldchen aus hohen Tannen endlich die Silhouette einer abgelegenen Alphütte ab.
Das kahle Holz der Hauswand war verwittert, Moose frassen sich in die Ritzen, und die Schneelast hing drohend am schiefen Dach. Doch als sie näher kamen, entdeckte Benjamin vom schneeverdeckten Dach einen dünnen Strahl grauen Rauchs, der sich träge in den Himmel drückte. «Schau, Rauch!», flüsterte er, kaum lauter als das Knirschen ihrer Schritte.
Sofia zog ihre Pistole aus dem Mantel, gab Benjamin ein Zeichen, sich hinter einer Tanne in Deckung zu begeben, und pflügte sich dann vorsichtig durch den knietiefen Schnee in Richtung der Hütte. Ihr Herz pochte, als sie sich mit dem Rücken an die hölzerne Hauswand lehnte und die Umgebung sicherte. Rechts von ihr führte eine Treppe auf eine kleine Laube, wo sich der Eingang zur Hütte befand, links schien eine kleine Tür in einen Keller oder Stall zu führen. Sie trat einen Schritt vom Haus weg, drehte sich um und nahm nun die zwei Fenster und die Tür ins Visier.
«Bigler?» Ihre Stimme hallte scharf zwischen Tannenstämmen und Holzwand wider. Das Echo flirrte zurück, jedoch ohne Antwort.
«Kenny, wir wissen, du bist hier. Komm mit erhobenen Armen raus!» Sie hob die Waffe, jeder Muskel angespannt, bereit zum Abdrücken.
Kurz darauf vernahm sie eine raue, brüchige Stimme, kaum lauter als ein Spuk. «Hilfe …» Das Wort hing gequält in der Luft.
Sofia überwand den letzten Meter zur Treppe in einem Satz und stieg flink hinauf. Erstaunt stellte sie fest, dass die alte Holztür nicht einmal verschlossen war. Mit einem kräftigen Ruck stiess sie sie auf und betrat eine geräumige, alte Küche. Eine offene Feuerstelle in der Ecke, daneben ein rostiger Gasherd. Alte Kupfertöpfe und verrusste Pfannen hingen an Haken, und in der Luft lag der muffige Geruch von angebranntem Fett.
«Hilfe!» Die Stimme klang nun dringlicher und kam aus der nächsten Kammer. Sofia spannte die Fingerspitzen am Abzug, trat einen Schritt vor und stiess mit dem rechten Fuss die hölzerne Zimmertür mit Metallbeschlägen auf.
Ein beissender Gestank von Moder und Fäulnis schlug ihr entgegen. Im matten Licht eines schmalen Fensters hockte Pauli Schmidig kraftlos auf einem wackeligen Stuhl, den Kopf zwischen die schmalen Schultern gesunken. In der anderen Richtung, unter dem Fenster, lag Kennys reglose Gestalt, übersät mit dicken, weissen Maden – ein grauenvolles Zeugnis dafür, dass der Tote hier bereits seit Tagen liegen musste.
«Wasser … bitte Wasser …» Pauli rührte sich kaum, seine Augen waren glasig vor Schwäche.
Sofia wirbelte herum, stürmte zurück in die Küche und griff in eine Einkaufstasche, die auf dem Küchentisch stand. Zwischen einer Packung Chips, glänzenden Konservendosen und ein paar zerdrückten Äpfeln fand sie sechs Flaschen Wasser. Mit zitternden Fingern öffnete sie eine und half dem schwachen Schauspieler, seinen Durst zu stillen. Dabei fiel ihr die schwere Eisenkette auf, die um seinen blutigen Knöchel gebunden war. Die Spuren frischer Kratzwunden zeugten davon, dass er mit aller Kraft versucht hatte, sich zu befreien – jedoch erfolglos.
* * *
Nat King Cole sang leise von Kastanien, die über offenem Feuer rösteten, seine samtige Stimme verschmolz mit dem Knistern der Flammen im Kamin der Hostellerie am Schwarzsee. Der verführerische Duft von Weihnachtsbraten mit Rosmarin und Knoblauch wehte aus der Küche in die Bar. Auf dem langen, cognacfarbenen Ledersofa, dessen Polster unter Paulis ausgemergeltem Körper nachgaben, flössten ihm eine dampfende Bouillon in einer bauchigen Keramikschale und eine Pizza Funghi mit goldbraunem, blasenwerfendem Rand endlich wieder Leben ein.
Benjamin knetete behutsam Paulis Füsse, während Michèle Wächter und Simone Appel an ihren mit Zimtstangen garnierten Glühweingläsern nippten, deren rubinroter Inhalt die Wangen der beiden Frauen zum Glühen brachte.
«Ich finde es wunderbar, mit euch allen Weihnachten hier oben zu verbringen, weit abseits von meinen Sorgen», rief Sofia mit einem Anflug von Heiterkeit und liess ihren Blick durch die mit glitzernden Silbergirlanden und kristallenen Schneeflocken geschmückte Bar schweifen.
«Ich hätte es nicht mehr lange gemacht in dieser Hütte», gab Pauli zu, während er mit zitternden Fingern ein Stück der knusprigen Pizza zum Mund führte. «Das Brennholz hätte noch ein, zwei Tage hingehalten. Aber ob ich es ohne Essen und Trinken so lange ausgehalten hätte, wage ich zu bezweifeln.»
Simone legte ihre schlanke Hand fürsorglich auf seinen Oberschenkel, ihre langen, rot lackierten Fingernägel bildeten einen starken Kontrast zu seiner verwaschenen Jeans. «Wir sind ja so froh, dass wir dich noch haben, Pauli.»
Pauli zog fragend die buschigen Augenbrauen zusammen, tiefe Furchen gruben sich in seine blasse Stirn. «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Matthias alle unsere Kolleginnen und Kollegen ermordet hat.»
«Das hat er auch nicht», erklärte Michèle sachlich und strich sich eine widerspenstige Locke hinter das Ohr, wo bereits eine Zigarette steckte, die darauf wartete, endlich geraucht zu werden. «Aber er hat dafür gesorgt, dass die richtige Pistole ihren Weg zu Cécile fand, die sie damit erschoss.»
Sofia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ihre Fingernägel trommelten nervös gegen das Weinglas. «Können wir das Thema wechseln und über etwas anderes als meinen Ex sprechen?»
«Sofia, glaub mir», wandte Simone sich nun tröstend an die Kommissarin und legte ihre warme Hand auf Sofias angespannten Oberschenkel. «Matthias ist kein Lügner. Ich kenne ihn gut, und ich weiss, er liebt dich über alles.»
«Das stimmt», pflichtete Michèle ihr bei und nickte bekräftigend. «So verliebt habe ich ihn noch nie gesehen.»
«Er konnte über nichts anderes mehr sprechen als über dich», lachte Simone, und ihre Augen funkelten im Kerzenschein.
«Und was nützt mir das jetzt, wenn er im Knast sitzt?», protestierte Sofia, worauf das Display ihres Handys mit einem bläulichen Schimmer aufleuchtete. Sie starrte auf die Nachricht, ihre Pupillen weiteten sich, während ihr Herz so heftig gegen ihre Rippen hämmerte, dass sie kaum Luft bekam. Ein erschrockenes «Oh» entfuhr ihrem plötzlich trockenen Mund.
«Was ist los, Sof?», fragte Benjamin besorgt und liess Paulis Fuss los.
Sofia schnappte nach Atem, und ihre Finger umklammerten das Handy mit aller Kraft. «Eine Nachricht von Matthias.»
* * *
Lies morgen das nächste Kapitel von «Süsser die Mörder nie morden».
* * *
Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.