Von Peter Denlo
Als Sofias Handyalarm um acht Uhr mit einem schrillen, metallischen Piepen klingelte, das die Morgenstille zerschnitt, pochte ihr Herz sofort wie ein gefangener Vogel gegen ihre Rippen. In einer guten Stunde würde Matthias ankommen, mit seinem schiefen Lächeln und den ozeanblauen Augen, die sie einst so fasziniert hatten.
Er hatte sich am Abend zuvor mit verheissungsvollen Worten bei ihr gemeldet, er werde am Weihnachtstag frühmorgens aus der kalten Betonzelle seiner Haft entlassen und wolle mit ihr sprechen. Sofia war sich nicht sicher, wie das gehen sollte, wie sie darauf reagieren würde, ob ihre Stimme standhalten oder in tausend Scherben zerspringen würde. Sie hatte sich am Abend mit Hilfe Benjamins, Paulis, Simones und Michèles, alle mit Weingläsern in der Hand und besorgten Blicken, dazu entschieden, es einfach auf sich zukommen zu lassen. Sie war sich sicher gewesen, dass sie im Moment wissen würde, ob sie ihm vertrauen könne oder nicht. Nun, da sie wieder nüchtern im zerwühlten Bett lag, der Geschmack von gestern noch bitter auf ihrer Zunge, war sie sich dessen nicht mehr ganz so sicher.
Sie stand aus dem Bett auf, kuschelte die kalten Füsse sofort in die flauschigen, weissen Hotelpantoffeln und zog die schweren, tannengrünen Vorhänge zur Seite, wodurch ihr das Fenster ein einzigartiges Panorama über den Schwarzsee bot, der in den goldenen morgendlichen Sonnenstrahlen inmitten der weiss verschneiten Bergwelt glitzerte wie tausend Diamanten. Sie setzte sich aufs gelb-grün gestreifte Sofa, die Polster noch kühl und unberührt, und schaute durch das Hotelzimmer mit seinen Vertäfelungen aus Arvenholz. Es war Weihnachten, und Sofia sah einen festlichen Tannenbaum, Fondue Chinoise und lachende Gesichter ihrer Lieben vor dem inneren Auge. Doch irgendwie fühlte sie sich einsam wie eine letzte vergessene Weihnachtskugel am leergeräumten Christbaum. Würde sich das alles ändern, wenn Matthias auftauchte? Sie wagte es zu bezweifeln. Er hatte sie ausspioniert mit seinen wachsamen Augen, benutzt mit seinen geschickten Händen, mit ihr gespielt wie mit einer Marionette an unsichtbaren Fäden. Und vor allem hatte er Beihilfe zum Mord geleistet, seine Finger indirekt am Abzug. Er hatte Valentinas Tod zu verantworten, das Erlöschen eines Lebens wie eine Kerze im Wind. Wie könnte sie ihm all das je verzeihen?
* * *
Sie sassen noch beim Frühstück im weiten, luftigen Panoramasaal, in dessen hohen Glasfenstern sich das matte Glitzern des Sees und die schneebedeckten Gipfel aneinanderreihten wie eine endlose Filmkulisse. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee mischte sich mit dem süssen Aroma von Croissants und hausgemachter Marmelade. Als Pauli plötzlich aufblickte und rief: «Dort kommt er!», herrschte sofort gespannte Stille.
Alle Blicke wandten sich dem Fenster zu, durch das man die breite Treppe sehen konnte, die zum Haupteingang der Hostellerie hinaufführte. Und tatsächlich stand dort vor der Tür Matthias, sein dunkler Wintermantel vom Pulverschnee gerändert, während er die Stiefel kräftig gegen eine Säule schlug, um die Flocken abzuklopfen. Gross und mit einem überraschend selbstbewussten Schritt betrat er den Empfangsbereich.
Benjamin, der neben Sofia sass, drückte sanft ihre Hand und fragte leise: «Soll ich mitkommen?»
Sofia lächelte dankbar, leerte ihren Becher mit einem letzten Schluck Kaffee, wischte sich mit der Serviette über den Mund und schüttelte den Kopf. «Nein, danke, Beni. Das schaffe ich allein.» Dann stand sie auf, zog ihren Mantel vom Stuhl und sagte: «Wünscht mir Glück!» Ein kurzer Blick zu ihren neuen Freunden, ein tiefer Atemzug, und sie verschwand Richtung Lobby.
Als sie um die Ecke in die Lobby kam, blieb sie stehen. Matthias stand reglos vor der Rezeption. Der selbstbewusste Mann von vorhin war verschwunden. Tränen liefen über seine roten Wangen, Verzweiflung stand in seinen feuchten Augen. Er breitete die Arme aus, als wolle er sie umarmen. Doch Sofia trat einen Schritt zurück, legte die Hände in die Seitentaschen ihres Mantels und wartete stumm auf eine Erklärung.
«Warum bist du schon entlassen worden?», brach sie schliesslich das Schweigen.
Seine Stimme zitterte, als er antwortete: «Sofia, ich bin ohne mein Wissen in all das hineingeraten. Ich wollte Valentina niemals etwas antun. Und dir schon gar nicht.»
Sie nickte nur knapp, deutete mit der Hand auf den Ausgang. «Erklär’s mir draussen.»
Ein paar Minuten später stapften sie nebeneinander über knirschende, verschneite Pfade um den Schwarzsee. Tannenbäume bogen ihre Äste unter der Last des Pulverschnees, und das Wasser lag unter einer glatten Eisdecke, auf der vereinzelt Flocken schmolzen.
Matthias wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und begann zu erzählen: wie er nach einer sinnstiftenden Tätigkeit neben der Schauspielerei gesucht hatte und bei einer Adoptionsagentur fündig geworden war. «Beim ersten gemeinsamen Mittagessen in dieser winzigen Pizzeria habe ich dir doch davon erzählt», erinnerte er sich, und Sofia nickte, wobei ihr die Erinnerung an diese Stunden das Herz wärmte.
«Doch schon bald begriff ich, dass in diesem Betrieb etwas nicht stimmte. Im November habe ich meine Kündigung per Ende Januar eingereicht.» Er stockte. «Aber es wurde bizarr: Man befragte mich ausgerechnet über DinnerKrimi und immer wieder über Valentina. Am 28. November schickte man mich mit einem Paket zur Sihlpost. Ich hatte keinen Plan, was drinsteckte. Aber sie wussten von mir bereits alles über Valentina: Dass sie wegen eines Hörsturzes in der Kindheit den Knall einer Schreckschusspistole kaum ertragen konnte, dass Corinne für ein leiseres Modell plädierte und letztlich, dass die richtige Waffe von Corinne zu Cécile gelangen würde, die Valentina schliesslich damit erschiessen sollte.»
Sofia blieb stehen, tippte mit der Spitze ihres Stiefels gegen das harte Eis am Ufer. Ihr Blick wanderte hinauf zu den scharf konturierten Berggipfeln, die sich plastisch vom kalten Blau des Himmels abhoben. «Wann hast du gemerkt, dass du Teil dieses Plans warst?»
Er antwortete leise: «Erst zwei Tage nach Valentinas Tod, auf dem Schiff in Thun. Da fiel alles zusammen: wie die Pistole von Corinne über Patrick zu Cécile kam. Und dass Valentinas Nachforschungen zu ihrer Adoption in Wahrheit Nachforschungen zur Agentur waren, für die ich arbeitete.»
«Und Carlo Ventrillo», Sofias Stimme klang hart, als sie den Namen des Toten aussprach, «die Leiche auf dem Schiff, was ist mit ihm geschehen?»
Matthias hielt den Blick gesenkt, als wolle er den eisigen Wind in der Höhe vermeiden. Seine Lider zuckten, als er sich beherrschte, nicht zu weinen. «Es war Notwehr. Ich musste zur Toilette, da zerrte er mich in den Maschinenraum und bedrohte mich mit einer Pistole. Er meinte, ich wisse zu viel und müsse sterben. In diesem Moment habe ich instinktiv mein Knie in seinen Bauch gerammt und ihm die Waffe entrissen. Doch er schlug weiter auf mich ein. Schliesslich griff ich nach einem angeschwärzten Hammer, der dort lag, und schlug zu. Dann steckte ich die Pistole ein, um mich in Zukunft verteidigen zu können.»
Sofia verschränkte die Arme, die Kälte schien ihr plötzlich nichts mehr auszumachen. «Du hast in deiner Aussage angeblich behauptet, du hättest mich nur ausspioniert.» Die Worte entglitten ihr schneller, als sie es erwartet hatte.
Matthias nickte langsam. «Dass ich mich erfolgreich gegen Ventrillo gewehrt hatte, erntete mir überraschenderweise Respekt bei meinen Chefs. Und so boten sie mir an, mich unter Schutz zu stellen, wenn ich für sie jemanden ausspioniere.»
«Mich.» Sofia hatte verstanden. Die Sonnenstrahlen brannten auf sie herab, und ihr wurde heiss. Sie liess die Jacke von den Schultern rutschen und schlug erneut die Arme vor der Brust zusammen. Seine Bestätigung lag schwer zwischen ihnen, während der See still und kalt dalag, als hätte er jedes Geheimnis längst in seinem Eis verschlossen.
«Du hast Mister Z aus dem Kellerverliess befreit, als ich bei dir übernachtete.» Sofia blieb abrupt stehen, ihre Stiefel knirschten im frischen Schnee. Sie suchte seinen Blick, doch Matthias marschierte weiter.
«Ja.» Seine Stimme klang rau wie Schleifpapier. «Und daraufhin versuchte ich ihn zu überzeugen, dass er dich nicht umbringen solle. Doch er hörte nicht auf mich. Denn sein Auftrag, dich zu liquidieren, kam von ganz oben.»
«Von Leo Leoni?», mutmasste Sofia, während ein eisiger Wind ihre Wangen rötete und einzelne Schneeflocken von den hohen Tannenästen hinüber wehten und auf ihren blonden Haaren landeten.
«Leo Leoni. Genau. Direkt aus seiner Gefängniszelle», bestätigte Matthias mit einem bitteren Lächeln. «Aber ich habe immer wieder versucht, dich vor Mister Z zu beschützen. Weil ich mich unsterblich in dich verliebt hatte. Warum sonst hätte ich dich beim Autogrill Pratteln aus dem modrigen Keller retten und die ganze Tankstelle in einem Feuerball in die Luft jagen sollen?»
Matthias blieb vor ihr stehen und drehte sich zu ihr um, seine Fussspuren im Schnee wie ein verschlungener Pfad. Zum ersten Mal auf diesem Spaziergang schaute er ihr direkt und tief in die Augen, sein Blick so intensiv, wie sie es sonst von ihm kannte. Stand der Matthias, den sie kannte und liebte, endlich wieder vor ihr? «Sofia, du musst mir glauben, ich … ich liebe dich über alles.»
Sofia blieb wie angewurzelt stehen, ihre Finger in den Handschuhen zitternd. Sie glaubte ihm, spürte die Wahrheit in seinen Worten und erkannte sie in seinen Augen. Doch eine innere Barriere, kalt und undurchdringlich wie das Eis des Sees, hielt sie noch zurück, in seine ausgestreckten Arme zu fallen.
«In Dürrenroth wollte ich dir alles erzählen.» Seine Stimme brach leicht. «Doch wir wurden unterbrochen. Zuerst von Corinne mit ihrem gestressten Getue und dann von Mister Z mit seiner bedrohlichen Knarre. Ich war am Boden zerstört, dass alles so weit hatte kommen müssen, und da fand ich einfach den richtigen Moment nicht mehr, es dir zu sagen.»
«Und bist du auf Bewährung frei oder wie geht es damit weiter?», wollte Sofia wissen, ihre Worte formten kleine Atemwolken in der klaren Winterluft.
«Ich werde rehabilitiert», erklärte er, sein Gesicht erhellte sich wie der Himmel nach einem Schneesturm, «wenn ich als Kronzeuge gegen die ganze Bande von Menschenhändlern aussage. Nur ein wichtiges Beweisstück fehlt noch: der USB-Stick. Der ist zwar klein und unscheinbar, aber er enthält genug Sprengkraft, um das ganze Netzwerk zu Fall zu bringen.»
Sie standen plötzlich wieder vor der Hostellerie. Die wärmenden Strahlen der Mittagssonne fielen sanft auf ihre Gesichter, und über den blauen Wasserspiegel des Sees glitzerte ein funkelndes Lichtmosaik, das sie bei ihrer Umrundung so lange begleitet hatte. Schweigend stiegen sie die steinernen Stufen empor, als Matthias sie mit einer sanften Handbewegung am Oberarm hielt. Sie wandte sich zu ihm.
«Sofia, glaubst du mir?» Seine Stimme bebte, und in den tiefdunklen Augen spiegelte sich die Verzweiflung eines Mannes, der alles riskierte. Sie spürte sein Herz pochen, hörte jeden Schlag zwischen ihnen und erkannte, dass nur sie seine Traurigkeit in Freude verwandeln konnte.
Leise hauchte sie: «Ich glaube dir, Matthias.» Dicke Tränen formten sich in seinen Augen. Sofia schlang ihre warmen Hände um seine von der Kälte geröteten Wangen und zog ihn sanft an sich. Dann presste sie ihre Lippen zärtlich auf seine und gab ihm einen Kuss, der alle Zweifel forttrug.
Hinter der Glasfront des Panoramasaals schwappte ein ohrenbetäubendes Jubeln herüber. Simone, Michèle, Pauli und Benjamin hockten noch am Frühstückstisch, die Kaffeetassen vor sich, riefen und klatschten vor lauter Glück. Sofia und Matthias lösten ihre Umarmung und blickten grinsend zu ihren Freunden hinüber.
Dabei kramte Sofia in ihrer Hosentasche, zog den rostigen Schlüssel hervor und hielt ihn gegen die Scheibe. Pauli richtete den Finger darauf, die Augen weit aufgerissen.
«Ich wusste, dass er den wieder erkennt», lächelte Sofia siegessicher.
«Warum denn?»
«Deshalb hat Kenny ihn entführt», erklärte Sofia kurz und zog Matthias entschlossen am Arm eilend durch den Hoteleingang.
Mit einem lauten Knall liess sie den Schlüssel auf das tadellos weisse Tischtuch vor Pauli fallen. Das Metall war mit Rost überzogen, jeder Zahn trug kleine Einkerbungen.
«Kennst du diesen Schlüssel?», forderte sie ihn heraus.
Pauli nahm ihn behutsam in die Hand, starrte die rostige Oberfläche an. «Ja, klar, das ist der Schlüssel zu unserem Kostümfundus.»
Sofia lehnte sich vor. «Und weisst du etwas von einem USB-Stick?»
Pauli blinzelte ratlos. «Einen USB-Stick? Kenny hat mich auch danach gefragt.»
«Genau deshalb hat er dich entführt», erklärte Sofia scharf. «Er wusste, dass du weisst, wo der Stick liegt.»
«Aber ich weiss es nicht!» Pauli strich sich nervös über die Stirn.
Benjamin legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. «Denk fest nach, Pauli.»
«Komm schon, Pauli, du weisst es», feuerte Simone ihn an.
Pauli trat ans Fenster, das Panorama des Sees beruhigte seine Gedanken, dann flackerte sein Blick zurück zum Schlüssel. Nach einem Moment murmelte er: «Ende November reichte mir Valentina eine pinkfarbene Damentasche. Sie sagte, sie passe nicht zu ihrer Rolle als Doris Dörig, sie wolle lieber eine beige. Dabei überreichte sie mir genau diesen Schlüssel und schickte mich in den Fundus, um die pinke Tasche zu tauschen.»
«Wir haben den Stick!», rief Sofia erleichtert.
«In der pinken Tasche im Fundus?», fragte Michèle ungläubig.
Matthias nickte langsam. «Genau dort.»
Simone erhob sich federnd. «Als ich nach Valentinas Tod ihre Rollen übernahm, suchte ich im Fundus nach Kostümen. Dort fand ich nur eine pinke Tasche. Und ich fand, sie passte perfekt zu Doris Dörig. Hey, Leute, mein Koffer mit allen Kostümen steht oben in meinem Zimmer.»
Wie von der Tarantel gestochen sprangen sie auf, stürmten durch die Lobby, schossen die Treppe hinauf, flitzten den Flur entlang und öffneten Simones Tür. Der dunkelbraune Reisekoffer lag auf dem Bett, sein Deckel halb geöffnet. Und tatsächlich, grell leuchtete eine knallpinke Handtasche hervor, als hätte sie nur darauf gewartet, gesehen zu werden.
«Hier!» Simone reichte Sofia die Tasche. Mit raschen Fingern zog sie den Reissverschluss auf und tastete im Inneren. Dann hielt sie inne, zog die Hand langsam heraus und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger einen kleinen, funkelnden, silbernen USB-Stick. In geschwungener Schrift prangte der Name «Leo Leoni» auf der glatten Metallfläche.
«Wir haben ihn», jubelte Sofia. «Was für ein Weihnachtsfest!»
* * *
Alle Personen, Firmen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Unternehmen sind rein zufällig.