«Es tut mir so leid», entschuldigte sich Jasmine Jäggi am 15. Juli bei mir, ihre Stimme am Telefon heiser. Sie rief aus dem Spital an, um mir mitzuteilen, dass sie leider nicht wie geplant für eine andere Schauspielerin einspringen könne. «Deine Gesundheit geht vor, Jasmine», versuchte ich, die Spielwütige zu besänftigen. «In ein paar Tagen verlegen sie mich in die Reha. Dann werde ich bald wieder einsatzbereit sein», versprach sie.
Doch in die Reha kam sie nicht mehr. Ihr Zustand verschlechterte sich in den darauffolgenden Tagen drastisch, und am 28. Juli trat Jasmine – viel zu früh, mit nur 63 Jahren – wegen den Folgen ihrer COPD-Erkrankung endgültig von der Bühne ab.
Die Nachricht hat mich tief getroffen. Mit ihr verlieren wir nicht nur ein immenses Schauspieltalent und eine leidenschaftliche Kollegin, sondern einen Menschen, der bleibende Spuren hinterlassen hat – auf den Brettern, die für sie die Welt bedeuteten, in den Herzen des Publikums und bei allen, die das Glück hatten, mit ihr zu arbeiten und sie zu kennen.
Jasmine hinterlässt ihren Lebenspartner Roger, einen Bruder und ihre drei Schwestern, mit denen sie eine innige und unverrückbare Verbindung hatte.
Geboren in Zürich, verbrachte sie ihre Kindheit zuerst im Aargau, dann vor allem im appenzellischen Trogen, einem Ort, der ihre Liebe zur Natur, zu Tieren und zum freien Denken prägte. Die Eltern führten nicht nur das grosse Kurhaus mit Schwimmbad, sondern betrieben auch ein Labor und stellen Glaskapillaren her, die in alle Welt exportiert wurden. Für die vier Schwestern bedeutete das: viel Selbständigkeit, viel Verantwortung – aber auch eine Freiheit, die für ein Kind wie Jasmine Nahrung war.
Sie war schon früh die, die voranging. Wenn der Schulweg im Winter 200 Höhenmeter durch den Schnee hinauf ins Dorf führte, war Jasmine vorne, stapfte entschlossen voran und machte ihren Schwestern den Weg frei. Dieses Bild, wie sie im Schnee vorangeht, passt zu ihrem ganzen Leben: mutig, unerschrocken, manchmal frech, immer bereit, den eigenen Standpunkt klar zu sagen – ob es den Erwachsenen passte oder nicht. Und trotz allem, war es ihre Mutter Trudi, die während ihrem ganzen Leben Jasmine Stärke und Selbstvertrauen gab.
Schon als Mädchen suchte sie den Auftritt. Gemeinsam mit den Nachbarskindern gründete sie den Kinderzirkus «Cillip». Jasmine war Clown, Akrobatin, Ideengeberin und Herzstück der Truppe. Sie entschied über Programmgestaltung und Musikauswahl, führte durchs die Aufführungen, improvisierte, wenn etwas schiefging – und brachte das Publikum zuverlässig zum Lachen. Verkleiden, Tanzen bis in die frühen Morgenstunden, Geschichten erfinden – für Jasmine war das Leben von Anfang an eine Bühne.
Mit 16 bewarb sie sich bei der Schauspielschule Zürich und an der Dimitri-Schule – beide hielten sie für zu jung. Zwei Jahre später zog sie nach Bern und begann ihre Ausbildung am Theater 1230. Dort, im Kellertheater in der Kramgasse, lernte sie das Handwerk von der Pike auf. Das Theater 1230 war in den 1980ern weit über die Grenzen Berns hinaus für seine mutigen Inszenierungen bekannt, ein gesellschaftskritisches Volkstheater, das mit seinen Tourneen durchs ganze Land Schweizer Klassiker neu und überraschend interpretierte. Mehrere Produktionen wurden vom Schweizer Fernsehen aufgezeichnet und ausgestrahlt.
Mittendrin: die junge Jasmine. Sie spielte Figuren, die dem Publikum im Gedächtnis blieben – vom bodenständigen Gotthelf-Charakter bis zu skurrilen Eigenkreationen. Ihre Kolleginnen und Kollegen erlebten ihre Präzision, ihren Humor und ihre Disziplin während den Proben und Aufführungen.
Jasmines Zeit beim Theater 1230 ist auch eng mit ihrer damaligen Beziehung zu Schauspieler Marcus Signer verbunden. Das Liebespaar zeigte ihre leidenschaftlichen Seiten auf und hinter der Bühne und avancierten zum Traumpaar der damaligen linken Szene Berns.
1989 traf sie ein doppelter Verlust: der Tod ihres Vaters und der Tod von Peter Schneider, dem Leiter des Theaters 1230. Es riss ihr den Boden unter den Füssen weg. Die nächsten Jahre wurden eine Zeit der Neuorientierung. Jasmine reiste, spielte in Chur, Bern, Bremen, trat in Zirkuszelten und auf kleinen Bühnen auf, arbeitete für Film, Fernsehen, Radio und Werbung. 1999, nach dem Ende des Theaters 1230, gründete sie mit dem Theater 1231 ihre eigene Fortsetzung, schrieb Stücke, führte Regie und feierte Erfolge, unter anderem mit dem Theaterstück Dumm & Dick nach dem gleichnamigen Roman von Rosmarie Burri.
Jasmine spielte leidenschaftlich gern Billard. Der Tisch wirkte im Vergleich zu ihrer schlanken Gestalt fast überdimensioniert, doch das schien sie nur zusätzlich zu beflügeln. Mit sicherer Hand, scharfem Blick und einer Mischung aus Konzentration und schelmischem Grinsen spielte sie viele ihrer Gegner regelrecht an die Wand. So auch Roger – der Mann, den sie 2012 beim Billardspielen kennenlernte. Aus einem lockeren Spiel entwickelte sich bald mehr: Die beiden verliebten sich, und mit Rogers beiden Söhnen, die Jasmine sofort ins Herz schloss, wuchs schnell eine Familie zusammen.
Abseits der Bühne und des Billardtisches fand Jasmine ihr persönliches Paradies in ihrem Schrebergarten. Hier, zwischen Beeten und Blumen, konnte sie zur Ruhe kommen – und gleichzeitig voller Tatendrang werkeln. Roger übernahm die schweren Arbeiten, doch das feine Gespür für Pflanzen, den grünen Daumen, gehörte ganz ihr. Im Frühling war es fast schon ein Ritual: Jasmine tauchte bei mir mit einem prall gefüllten Sack Bärlauch auf, damit ich daraus Pesto machen konnte.
Ebenfalls 2012 fand Jasmine den Weg zu krimi.ch. Sie begriff das Konzept sofort: Man gab ihr den Text – und sie lieferte im Nu eine Figur dazu, mit Dialekt, Tick oder einem speziellen Gang. Über 650 Aufführungen spielte sie für uns, und in jeder steckte ihr ganzes Herzblut. Ob als taffe Kommissarin, schrullige Alte, romantische Liebhaberin oder als charismatische Sexbombe – Jasmine konnte alles. Auch in zwei Ausgaben von Tatort Jungfrau war Jasmine zu erleben.
Doch Jasmine war mehr als ihre Rollen. Sie war eine aufmerksame Zuhörerin, die in Gesprächen oft den einen Satz fand, der hängen blieb. Sie konnte über sich selbst lachen, aber auch über andere – liebevoll, mit einem treffsicheren Gespür für Eigenheiten. Wer sie kannte, erinnert sich an ihre Fähigkeit, Situationen in wenigen Sekunden ins Komische zu drehen.
Sie war mutig im Widerspruch und konsequent darin, ihren eigenen Weg zu gehen – auch wenn er nicht immer geradeaus führte. Sie kannte Höhen und Tiefen, und auch wenn nicht alle Kapitel ihres Lebens leicht waren, trug sie eine Stärke in sich, die andere inspirierte. Das Schauspielen war für sie nicht einfach Arbeit, sondern Lebenselixier. Auch in den letzten Jahren, als ihre Krankheit begann, sie einzuschränken, wollte sie weitermachen.
Bis zuletzt blieb etwas von diesem Kinderzirkus-Mädchen in ihr. Noch in den letzten Tagen im Spitalbett parodierte sie zur Freude ihrer Familie den österreichischen Oberarzt. Der Wille war da, die Manege nicht zu verlassen, solange noch Licht brennt. Doch am 28. Juli ist dieses Licht erloschen. Aber ihr Lachen, ihre Rollen und ihre Geschichten werden weiterleben – im Gedächtnis ihrer Familie, ihrer Freundinnen und Freunde, in den Herzen ihres Publikums.
Ich werde Jasmine vermissen. Ihren Blick, wenn sie auf der Bühne einen Satz setzte, der alles veränderte. Ihr Lächeln, wenn sie im richtigen Moment die Stille brach. Ihren Humor, der auch in ernsten Momenten half.
Ihre Schwestern, ihr Bruder, ihr Lebenspartner Roger, ihre Freundinnen und Arbeitskollegen werden sie vermissen. Ihren Humor, ihr offenes Ohr und ihre selbstgemachte Konfitüre, deren Gläser sie stets mit alten Passfotos verzierte.
Danke, Jasmine. Du hast uns gezeigt, wie man das Leben mit Mut, Witz und Herz lebt – und dass man dabei ruhig auch mal querfeldein gehen darf. Die Bühne ist jetzt dunkel, aber dein Licht bleibt.