Von Peter Denlo
Als Sofia den Schlüssel drehte und gleichzeitig mit der Schulter ruckartig gegen die Haustür drückte, die während der kalten Wintertemperaturen immer klemmte, schlug ihr sofort ein eisiger Luftzug entgegen.
«Shit, habe ich heute Morgen das Fenster im Schlafzimmer offengelassen?», murmelte sie genervt. Es war schon kurz vor Mitternacht; Sofia war nach einem ereignisreichen Arbeitstag müde und wollte nur noch ins Bett. Während sie Halfter samt Pistole ablegte, betrat sie die Küche, um sich einen kleinen Snack vor dem Schlafengehen zu gönnen.
Sie legte ihre Dienstwaffe auf den Küchentisch und öffnete den Kühlschrank. Da hörte sie plötzlich das Knarzen des Parkettbodens hinter sich. Sie fuhr herum. Woher kam das Geräusch? Aus dem Wohnzimmer? Leise griff sie nach der Pistole und trat vorsichtig in den Flur. Niemand zu sehen.
«Komm auf keine falschen Ideen, ich bin bewaffnet!», warnte sie in die Dunkelheit. Keine Antwort. Ihre Anspannung löste sich langsam, sie schob das Gehörte auf Einbildung. Doch dann knarrte der alte Holzboden erneut. Sofia stürmte mit geübten, schnellen Schritten ins Wohnzimmer.
Ein maskierter Mann stand neben der offenen Balkontür, Sofias Angorakaninchen Luigi am Nackenfell hochhaltend und eine Waffe auf das Tier gerichtet. Sofia erstarrte.
In diesem Moment sprang eine weitere Person von hinten auf sie. Ein Schuss löste sich. Das Glas der Balkontür zerbarst in tausend Scherben, und der zweite Mann entriss Sofia die Pistole und nahm sie in den Schwitzkasten.
«Wo ist der USB-Stick?», fauchte der Kidnapper.
«Was macht ihr in meiner Wohnung?»
«Den Stick. Dann passiert dir und deinem Hasen nichts.»
«Das ist ein Kaninchen, kein Hase.»
«Scheissegal. Wo ist er?»
«Ich habe ihn nicht. Leo hatte ihn zuletzt.»
Der Mann wurde wütend. «Willst du mich verarschen? Du hast Leo letzte Woche eingebuchtet. Willst du mir sagen, er hat den Stick mit in den Knast geschmuggelt?» Er lachte schallend.
«Leo ist doch sicher dein Kumpel. Frag doch ihn», presste Sofia hervor.
Luigi strampelte verzweifelt, doch der Maskierte schien plötzlich Mitleid zu haben und setzte den kleinen, weissen Fellball zurück in seinen Käfig, wo dieser sofort zur Karotte watschelte und hörbar zu nagen begann.
Sofia erkannte den kurzen, stillen Moment, in dem alle dem süssen Wuscheltier lauschten, sofort als ihre Chance. Gekonnt rammte sie mit aller Kraft ihren Ellenbogen dem Typ hinter ihr zwischen die Beine und fast gleichzeitig trat sie ihm mit hartem Absatz auf die Zehen. Er liess sie los und krümmte sich vor Schmerz.
Dann krachte ein Schuss. Ein lauter, schneidender Knall. Sofia schrie.
* * *
Als Sofia, eingemummt in ihre dicke Winterjacke, an der Hessstrasse aus dem 10er Bus stieg, verfluchte sie ihre Zusage an Jessica. Seit Luigi vor einer Woche erschossen worden war, war sie krankgeschrieben. Der Schrecken sass tief, und der Verlust ihres geliebten Angorakaninchens, das sie vor acht Jahren von ihrem Exfreund zu Ostern bekommen hatte, nagte an ihr.
Doch Jessica hatte sie überredet.
«Ein gemütlicher Abend unter Leuten, ein lustiger Krimi mit feinem Essen und ein weihnächtlich geschmücktes Restaurant – das lenkt dich ab», hatte sie versprochen. Noch war Sofia nicht überzeugt, als sie in die hell erleuchtete Einfahrt des Landhaus Liebefeld einbog. Jessica wartete bereits mit einem Glas Prosecco in der Hand.
Im Romantik Hotel duftete es nach Zimt, Mandarinen und warmem Wachs. Die beiden stiegen die steile Steintreppe hinauf in den festlich geschmückten Dachstock, wo das Krimidinner stattfand.
Plötzlich zupfte jemand an Sofias Jacke. Erschrocken drehte sie sich um. Ein schlanker Mann im Nadelstreifenanzug starrte sie mit stechenden Augen an. Für einen Moment war sie sicher, ihn irgendwoher zu kennen.
«Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?», fragte er etwas zu freundlich. Sofia war nicht wohl.
«Nein, danke. Die behalte ich lieber bei mir.»
«Sofia, was ist mit dir?», mischte sich Jessica ein. «Bist du jetzt so paranoid, dass du dem Kellner nicht mal die Jacke gibst?»
«Ich bin der Patron», korrigierte der Gestreifte leicht beleidigt.
«Für einen Patron sind Sie aber noch ganz schön jung», flirtete Jessica und riss Sofia die Jacke aus der Hand, um sie ihm zu geben.
«Tisch vier, die Damen.» Er deutete in den Saal zu einem rund gedeckten Tisch in Weiss. Kerzenlicht glitzerte auf dem Silberbesteck und den Gläsern.
«Du wirst sehen, Sof, diese Krimis machen süchtig», versprach Jessica.
«Du weisst, dass ich eigentlich jeden Tag einen Krimi erlebe?», versuchte Sofia zaghaft zu erwidern.
* * *
Der Dachstock füllte sich rasch. Gedämpftes Stimmengewirr mischte sich mit Tellergeklirr und dem Knistern des Kamins. Die Gäste waren in fröhlicher Adventsstimmung, ein bisschen zu laut, ein bisschen zu aufgekratzt für einen Sonntagabend, doch so lief es bei diesen DinnerKrimis immer. Als die ersten Schauspieler die Bühne zwischen den Tischen betraten und das Publikum in Gelächter ausbrach, spürte Sofia tatsächlich, wie sich ihre Schultern ein wenig entspannten. Vielleicht half der Alkohol. Es war ihr egal. Endlich einmal ein Krimi, in dem sie nicht selbst die Hauptrolle spielte.
Valentina Bach zog das Publikum sofort in ihren Bann. Nicht, dass die anderen Schauspieler schlecht gewesen wären, nein, aber Valentina hatte etwas Seltenes. Sofia kannte die Berichte über ihren kometenhaften Aufstieg. Man prophezeite ihr eine glänzende internationale Karriere. Und nun stand sie hier im Dachstock des Landhaus Liebefeld und spielte zwei Rollen mit atemberaubender Präzision: die elegante, anziehende Pflegerin Fleur mit erotisch warmer Stimme – und kurz darauf Dr. Knappke, eine grotesk verkrümmte Chirurgin mit grauem Wuschelhaar und einer Stimme wie rostiges Metall. Es wirkte, als hätte Valentina zwei völlig unterschiedliche Seelen in sich.
Als der vierte und letzte Akt begann, verdichtete sich die Spannung. Wer war der Mörder? Das Licht wurde kühler, die Gäste beugten sich vor. Dr. Schlitz, gespielt von Cécile Gschwind, erschien auf der steinernen Wendeltreppe, die von der Garderobe in den Saal führte. Die Pistole in ihrer Hand glänzte im Kerzenlicht.
«Ich weiss, was Sie getan haben, Dr. Knappke!», rief sie mit zitternder Stimme. Valentina drehte sich langsam um, der Rücken gekrümmt, die Miene verzogen. «Unsinn!», krächzte sie tief und rau. Ein wohliger Schauer ging durch den Saal.
Dr. Schlitz holte Luft und eine Träne rann über ihre Wange. «Sie haben meinen Mann auf dem Gewissen. Und dafür werden Sie jetzt büssen.»
«Aber ich…», begann Dr. Knappke. Doch der Rest ging im Knall unter.
Ein kurzer, scharfer, trockener Laut zerriss den Raum. Einige Gäste zuckten zusammen, stiessen erschrockene Laute aus. Dann begeistertes Raunen. Applaus. Nervöses Lachen. Und die Blutfontäne, die aus Valentinas Brust schoss, über ihren weissen Kittel, über die Tischdecken, bis zu den Dachbalken, sogar ins Kaminfeuer, wo die Flammen das nasse Rot zischend verschlangen.
Valentina begann zu zittern, ganz leicht zuerst, dann sank sie in sich zusammen – erst auf die Knie, dann seitlich weg, als wären ihr plötzlich die Beine entzogen worden. Der Schlag ihres Körpers auf die Terracottaplatten war dumpf und überzeugend.
Oder zu überzeugend? Selbst Sofia wagte noch nicht, ihrem Instinkt zu trauen.
Erich Hollenstein als Dr. Collins tänzelte die Treppe hoch und tat überrascht, worüber das Publikum erneut lachte. Cécile blickte für einen Moment irritiert auf die Pistole in ihrer Hand. Dann rief sie fassungsvoll: «Herr Hauser, bringen Sie die Leiche in die Pathologie!»
Der Gast, der den Bestatter spielte, eilte herbei und zog gemeinsam mit Dr. Collins die leblose Valentina die Treppe hinunter – eine lange rote Spur hinterlassend.
Kurz darauf endete das Stück in tosendem Applaus. Wein, Adventsstimmung, Realismus – alles verschmolz zu ausgelassener Berauschtheit. Doch beim Schlussapplaus traten nur drei Schauspieler hervor. Cécile Gschwind, Erich Hollenstein und ein sichtlich überforderter Pauli Schmidig. Valentina fehlte.
Ein Raunen ging durchs Publikum, diesmal ein echtes, irritiertes. Und in diesem Moment durchzuckte Sofia der Gedanke an den Klang, der durch den Raum gefahren war. Eine Schreckschusspistole wie sie im Theater oft benutzt wurde? Nein. Sofia hatte den Knall unterbewusst erkannt. Eine Walther PPK, neun Millimeter.
Als die Gäste lachend den Saal verliessen, schwärmte Jessica: «Der beste DinnerKrimi ever! Ich brauche das Rezept für die Suppe, und diese Defibrillator-Szene…»
«Ich muss kurz etwas erledigen», unterbrach Sofia. «Geh schon heim. Wirklich.»
Jessica runzelte die Stirn. «Du siehst aus, als wolltest du jemanden verhaften.»
«Es ist nichts. Ich rufe dich morgen an.»
«Pass auf dich auf, Sof», seufzte Jessica und verschwand.
* * *
Der Geruch von Blut hing in der Luft, als Sofia die Künstlergarderobe eine Etage tiefer betrat. Metallisch, warm, erschreckend vertraut. Das Ensemble befand sich im Ausnahmezustand.
Valentina Bach, das verheissungsvolle Schauspieltalent, lag reglos, bleich, die Augen halb geöffnet, mitten im Raum. Der beige Teppich hatte ihr Blut gierig eingesogen und glänzte triefend nass. Pauli Schmidig kniete oben ohne neben ihr. Der tätowierte Körper des Schauspielers mochte wie der eines rauen Kerls wirken, doch Schmidig fuchtelte mit seinen kunstvoll verzierten Armen hilflos in der Luft herum, während ihm Tränen über das schmerzerfüllte Gesicht liefen. Seine hohen Töne der Trauer, mit denen er unverständliche Fragen stammelte, bohrten sich Sofia schmerzhaft in die Ohren.
Cécile Gschwind stand einfach da. Eine erstarrte Statue. Die Pistole lag vor ihr auf dem Boden. Ihre Haltung erinnerte an eine Frau, die sich kaum traute zu atmen.
Erich Hollenstein lehnte lässig am Fenster und nahm gerade einen Schluck aus einem goldenen Flachmann, als seine Augen auf Sofia trafen.
«Wie Agatha von Hollenstein. Genau wie Agatha von Hollenstein», murmelte er ihr entgegen. Sofia hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Sein Gesicht wirkte gelassen und streng zugleich, und sie meinte ein Flackern darin zu erkennen, als würde er sehr genau verstehen, was hier geschehen war.
Der Abendspielleiter Patrick Staub stürmte hektisch in den Raum und gab sich Mühe, Ordnung zu simulieren. Er stopfte Requisiten in einen Koffer, faltete Kostüme zusammen und rollte eine Kabeltrommel auf. Für Sofia sah es aus, als versuche er verzweifelt, etwas zu kontrollieren, das längst ausser Kontrolle geraten war. Plötzlich bemerkte er Sofia, die sich bis zum Fenster vorgewagt hatte.
«Was machen Sie hier?», fuhr Patrick sie an. «Sie haben backstage nichts zu suchen!»
«Sofia Winter, Mordkommission. Niemand verlässt diesen Raum.»
«Oh Gott, Horror!», quietschte Pauli, worauf Cécile, starr in die Leere blickend, tief und leise zu schreien begann.
«Können wir uns jetzt bitte einmal fassen und kurz darüber nachdenken, wie das passieren konnte?», schlug Erich vom Fenster aus sachlich vor und zog lange an seiner E-Zigarette, die dicke, weisse Wolken ausstiess.
«Ich benutze nur die Requisiten, die mir von unserem Chef gegeben werden!», erklärte Patrick nervös. Pauli fuhr ihn sofort an: «So what?! Valentina ist tot! Und mit wem tratsche ich denn jetzt über meine One-Night-Stands?!»
«Ich habe abgedrückt», stammelte Cécile mechanisch und sank über der Leiche zusammen, als wolle sie sie schützen. Sofia half der Schauspielerin wieder auf die Beine und mahnte sie, nichts zu berühren, bevor die Kollegen von der Forensik alle Spuren gesichert hatten.
In diesem Moment klingelte Sofias Handy. Unterdrückte Nummer erschien auf dem Display.
«Hallo?», meldete sie sich. Am anderen Ende erklang eine verzerrte, kaum menschlich klingende Stimme:
«Zuerst Luigi. Jetzt Valentina. Wer wird wohl als Nächstes dran glauben müssen?»